70 Jahre Kriegsende: „Ich habe die Schreie gehört“
Ravensbrück war das größte Konzentrationslager für Frauen. Am Sonntag wurde dort wie auch in Sachsenhausen der Befreiung vor 70 Jahren gedacht.
Der See, auf dessen Grund noch immer die Asche toter Frauen ruht, liegt glatt und klar in der Frühlingssonne. Die Vögel zwitschern in Ravensbrück und setzen sich in die großen Lindenbäume, die vor mehr als 75 Jahren von der SS gepflanzt wurden. Der Wind ist kalt und schmeckt salzig. Viele Frauen, die hier nachts ankamen, dachten deshalb zunächst, sie seien am Meer. Tatsächlich waren sie am Ufer des Schwedtsees im Norden Brandenburgs. Den See sah man nicht mehr, sobald man hinter den Lagermauern war.
Am Sonntag steht Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke vor diesen Mauern, inmitten eines schwarz gekleideten Jugendorchesters, und nennt das KZ-System der Nazis „das größte Verbrechen, dass Menschen anderen Menschen je angetan haben.“ Am Sonntag gedachten Regierungsvertreter, Überlebende und deren Nachkommen der Befreiung Ravensbrücks vor 70 Jahren. Was für ein Lager aber war Ravensbrück, das größte Konzentrationslager für Frauen?
„Als Kind war mein größter Wunsch, Flügel zu haben und über die Mauern zu fliegen.“ Irene Fainman-Krausz sitzt nur wenige Meter von ihrem ehemaligen Gefängnis entfernt, stark geschminkt und in einem türkisfarbenen Mantel. „Es war reines Glück, dass ich und meine Mutter überlebt haben.“ Nun, 70 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, ist sie wiedergekommen, ihren Sohn an der Seite.
"Ravensbrück hat gezeigt, was der Mensch den Frauen antun kann"
132 000 Frauen und Kinder aus ganz Europa sind zwischen 1939 und 1945 wie Fainman-Krausz durch das Tor des Lagers Ravensbrück gegangen. Die SS-Wachen des Lagers ermordeten zwischen 30 000 und 90 000 von ihnen; die Zahl kann auch heute nur geschätzt werden. Der Rest wurde zu härtester Arbeit gezwungen, geschlagen, erniedrigt, gefoltert. Von den Frauen war nur eine Minderheit jüdisch. Viele waren politische Gefangene, Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen, Prostituierte, Kleinkriminelle und später, je länger der Krieg dauerte, immer mehr tschechische, polnische und russische Frauen. „Wenn Auschwitz gezeigt hat, was der Mensch einem Volk antun kann, so hat Ravensbrück gezeigt, was der Mensch den Frauen antun kann,“ so schreibt es die Autorin Sarah Helm in ihrem Buch über Ravensbrück.
Und doch ist Ravensbrück seither eine Randnotiz geblieben. Die Tötungsexzesse in Auschwitz, Treblinka, Belzek und Sobibor haben es überschattet. Die Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben, stammen von dort. „Ravensbrück wird bis heute nur am Rande beachtet. Das Bild des KZ-Häftlings ist männlich“, meint Insa Eschebach, die Leiterin der Gedenkstätte in Ravensbrück. Auch wenn heute der Ministerpräsident, Forschungsministerin Johanna Wanka und Anna Komorowska, die Gattin des polnischen Präsidenten, da sind: Ravensbrück ist häufig nur eine sehr kleine Anekdote in einer sehr großen Geschichte.
Gefangene aus Sachsenhausen errichteten die Mauern von Ravensbrück
Die Geschichte von Ravensbrück ist dabei eng mit der des Männerkonzentrationslagers in Sachsenhausen verbunden, wo am Sonntag ebenfalls der Befreiung vor 70 Jahren gedacht wurde, wieder in Anwesenheit von Ministerpräsident Woidke und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Gefangene aus Sachsenhausen errichteten 1939 die Mauern und Baracken des Frauen-KZs. Und bis zuletzt wurde in Sachsenhausen das Brot für Ravensbrück gebacken und jeden Morgen hingefahren. Im Gegenzug wurden in Ravensbrück die KZ-Wachen ausgebildet, die dann von Sachsenhausen bis Auschwitz eingesetzt wurden.
Unweit des ehemaligen Ravensbrücker Appellplatzes, auf dem nun die Gedenkfeier stattfindet, fing das Töten vor mehr als 75 Jahren an. Die erste, von Überlebenden bezeugte Ermordung fand im Strafblock statt, der an den Platz grenzte. Eine Roma-Frau hatte angefangen zu toben und zu schreien, nachdem man ihr ihr sechs Wochen altes Baby weggenommen hatte. Sie „schrie wie eine Wahnsinnige“, so eine Zeugin. Die KZ-Aufseher und -Aufseherinnen hatten sie daraufhin in den Strafblock geschleppt. Dort wurde aus dem Schreien ein Wimmern, das schließlich ganz aufhörte. Wenig später wurde der blutige Körper der Frau hinausgetragen. Viele weitere Tote sollten folgen, am Anfang durch Arbeit, Auszehrung und Krankheit, später durch Massenerschießungen und Gaskammern.
Wer sich bewegte, wurde geschlagen oder von Hunden gebissen
Fainman-Krausz erinnert sich daran, wie ihre Mutter sie beim Appell dadurch schützte, dass sie ihre Hände vor ihr Gesicht und die Daumen in ihre Ohren legte. Beim Appell mussten die Frauen oft stundenlang – im Winter in eisiger Kälte – draußen stehen, ohne sich zu rühren. Wer sich bewegte, wurde geschlagen oder von Hunden gebissen. „Ich habe die Schreie natürlich trotzdem gehört.“
Dazu kam der Hunger: Gegen Ende des Krieges bekamen die Frauen nur noch einmal am Tag wässrige Suppe aus Steckrüben, Roter Bete und Karottenschalen. „Ich hörte auf zu wachsen. Ich trug die ganze Zeit denselben Kindermantel,“ erinnert sich die 79-Jährige. Das wenige Essen, die harte Arbeit und die ständigen Schikanen durch die SS waren dabei bewusst so angelegt, dass sie die Bewohner des Lagers langsam in den Tod trieben.
Roma-Kinder wurden zwangssterilisiert
Wer damals auf dem Appellplatz stand, sah auf der einen Seite eine Baracke, die „das Revier“ genannt wurde. Das Revier war eigentlich ein Krankenzimmer. Im Dezember 1944 sterilisierte der SS-Arzt Carl Clauberg dort 200 Roma-Kinder. Den Müttern der Kinder erzählte der Arzt, dass sie freikämen, wenn sie ihre Kinder sterilisieren ließen. Die Roma-Frauen glaubten ihm. Den Mädchen, viele nicht einmal zehn Jahre alt, wurde eine Flüssigkeit in die Gebärmutter injiziert, die sie noch zwei Stunden nach der Operation vor Schmerzen schreien ließ. „Nach der Operation holten wir die Kinder aus dem Röntgenraum und legten sie in ein Bett im Behandlungszimmer, wo sie lagen und aus der Gebärmutter bluteten,“ berichtete eine Zeugin. Kurz nach der Behandlung starben zwei der Mädchen unter schrecklichen Schmerzen.
Babies wurden ausgehungert
Gleich nebenan war das Kinderzimmer. Hier lagen sie wie die Neugeborenen in Fünferreihen nebeneinander. Am Anfang waren die Frauen in Ravensbrück noch zur Abtreibung gezwungen worden, aber als zwischen 1943 und 1944 immer mehr schwangere Frauen kamen, ließen die Nazis Geburten zu – nur um die Babys dann systematisch verhungern zu lassen. Die Mütter waren zu ausgehungert, um ihre Kinder zu stillen, und die SS weigerte sich sehr bald, größere Essensrationen an Mütter auszugeben. Auch wurden die Mütter gezwungen, ihre Kinder nachts alleine im Kinderzimmer zu lassen, wo sie dicht gedrängt lagen, häufig ohne Decken, während die deutschen Krankenschwestern darauf bestanden, auch im Winter die Fenster offen zu lassen. Eine Gefangene beschreibt das Zimmer in ihren Erinnerungen so: „Als ich das Licht anmachte, sah ich Ungeziefer überall, auf den Betten und in den Nasen und Ohren der Babys. Viele der Kinder waren nackt, weil ihre Decken verrutscht waren.“ Von den 600 Kindern, die zwischen September 1944 und April 1945 in das Geburtenbuch des Lagers eingetragen wurden, überlebten nur 40.
„Du musst jetzt doch nicht fliegen. Wir können gehen.“
Ingelore Prochnow ist eines dieser Kinder. Sie wurde hier im April 1944 geboren. „Ich habe hier wie durch ein Wunder ein Jahr überlebt.“ Die schüchterne Frau sitzt im Besucherzentrum der Gedenkstätte und erzählt von einem Martyrium, das sie bewusst gar nicht erlebt hat und von dem sie nur Bruchstücke weiß. Ihre Mutter ließ sie in der Silvesternacht 1947 in einem Flüchtlingslager zurück. Erst Jahrzehnte später hat sie die Mutter wiedergefunden – und die wollte nicht reden, erst recht nicht über Ravensbrück. Nur so viel ist klar: Ihre Mutter muss Hilfe anderer Insassen gehabt haben. Eine ehemalige Insassin hat ihr mal gesagt: „Hier hattest du viele Mütter.“ Der Zusammenhalt der Frauen im Lager hat Prochnows Leben gerettet. Wie ein schützender Kokon seien die Frauen gewesen. Nur nach dem Lager konnten sie Prochnow nicht mehr helfen, und ihre leibliche Mutter wollte auch später nichts mehr von ihr wissen.
Als Fainman-Krausz mit ihrer Mutter das Lager 1945 durch das Tor verließ, fragte sie immer wieder: „Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?“ Sie konnte sich nach drei Jahren in Konzentrationslagern nicht vorstellen, dass es endlich vorbei war. Die Mutter antwortete: „Du musst jetzt doch nicht fliegen. Wir können gehen.“
Johannes Böhme
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