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Cover des Buchs "Pici" von Robert Scheer, in dem seine Großmutter Elisabeth Scheer, genannt "Pici", von ihren Erlebnisse als Jüdin in der NS-Zeit erzählt.
© promo

Erinnerungen an Ravensbrück: "Ich denke, sie verhungerten einfach"

Zeitzeuginnenbericht über das KZ Ravensbrück: Leseprobe aus dem Buch "Pici" von Robert Scheer, in dem seine Großmutter Elisabeth Scheer, genannt "Pici", von ihren Erlebnissen als Jüdin in der NS-Zeit erzählt.

Wir erreichten also Ravensbrück – ein großer Schritt Richtung gänzlicher Untergang. Das Lager war sehr groß. Ich weiß nicht, wie viele Frauen dort zu dieser Zeit lebten. Für unseren Transport gab es keinen leeren Block. Es gab ein Riesenzelt, wie ein Zirkuszelt, dessen Boden mit Ziegeln ausgelegt war. Wir saßen zusammengekauert auf den Ziegeln. Dezemberkälte. Tausendfünfhundert in dem Zelt. Dies war ein Tiefpunkt der Jämmerlichkeit, dass der Lebenswille in uns nur noch blinzelte.

Ein schrecklicher Schicksalsschlag traf uns: Anci konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihr Fuß war dick geschwollen. Es gab ungefähr zwanzig Frauen, denen es ähnlich ging. Diejenigen, die draußen beim Appell nicht stehen konnten, wurden im Zelt gezählt. Sie saßen am Rand des Zeltes auf Stroh. Neben ihnen standen Eimer für ihre Notdurft. Aber ich weiß nicht, ob sie dazu überhaupt aufstehen konnten.

Eines Tages – es war jetzt Ende Dezember 1944 – brachte die SS zwei Frauen. Sie hatten schöne Mäntel an, trugen Hüte auf ihren Köpfen und hatten lange Haare. Die beiden waren aus Carei: Klári Moskovics, die Tochter des Bankdirektors, und Gizi Weisz, ihr Zimmermädchen. Wir fragten uns, wie die beiden in so einem guten Zustand hierher gelangten. Icu und ich gingen zu ihnen. Erst erkannten sie uns nicht, dann fragten sie, ob wir die Meisels-Mädchen seien? ›Mein Gott‹, sagten sie, das könne nicht wahr sein.

Die beiden waren nicht im Ghetto gewesen. Sie waren nach Budapest geflüchtet und hatten sich dort mit falschen Papieren versteckt. Die Belagerung fing bereits an, aber sie wurden gefasst. Obwohl es für die Deutschen eng geworden war, gingen sie mit entdeckten Juden streng um, kannten sie keine Gnade. Es war nur eine Frage von Stunden oder Tagen, bis die Rote Armee Auschwitz erreichen würde und deshalb wurden die Juden, die zu dieser Zeit noch in Ungarn festgenommen wurden, nach Ravensbrück deportiert.

In Auschwitz sprengten die Nazis die Blöcke, in denen noch Menschen waren, die Gaskammern und das Krematorium. Bei dieser Explosion kamen Laci Bürgers Mutter Fani und ihre beiden Töchter um: Magda – mit der ich bereits in der deutschen Schule auf derselben Bank gesessen hatte – und ihre kleine Schwester Lilike – ein kleines, dünnes, vierzehnjähriges Mädchen. Die Bürger-Frauen hatten sich in Auschwitz stets vor der Selektion versteckt. Sie fürchteten sich davor, getrennt zu werden. Dies gelang ihnen wohl bis Januar 1945, aber dann starben sie durch die Explosion des Lagers. Die Deutschen wollten nicht, dass die Russen Zeuginnen fanden.

Ich weiß nicht, wie viele Tage wir in Ravensbrück im Zelt lebten. Schließlich wurden wir dem Zigeuner-Block 24 zugeteilt. Er war eine kalte, dunkle Gruft. Fenster gab es vielleicht drei, nur Fensterrahmen, aber keine Fensterflügel. Stattdessen waren dort ein paar Decken aufgehängt, welche am ersten Abend geklaut wurden, und so floss die winterliche, neblige Luft ungehindert hinein. Jeden Tag gab es mindestens fünfzehn Tote unter uns. Diejenigen, die bereits in Frankfurt kaputtgegangen waren, verendeten während der Nacht, ohne auch nur ein Stöhnen von sich zu geben.

Morgens vor dem Appell ging ich mit Icu zum Waschraum, um wenigstens das Gesicht zu waschen. Dort lagen die nackten Leichen auf den Ziegeln. Mit Tintenbleistift waren sie mit Nummern beschrieben. Es gab keine Spur von Brust, nur Haut und Knochen. Anschließend kam das Sonderkommando mit großen zweirädrigen Karren und brachte sie ins Krematorium.

Eines Morgens befahl mir ein Kapo, ich solle die Füße einer frischen Verstorbenen anfassen, eine andere Frau sollte die Schultern des Leichnams ergreifen. Ich wollte es nicht tun, denn die Tote war noch warm. Es war Borá aus Budapest. Ihren Nachnamen kannten wir nicht. Und nun sollte ich ihre noch nicht ganz erkalteten Füße anfassen. Der Kapo schlug mich mit dem Gummistock. Ich fasste sie an

Ich konnte die Tage nicht mehr auseinander halten, nur so, dass an einem Tag dies und an einem anderen Tag jenes geschah. Aber immer waren wir sehr hungrig und froren.

Ich erzähle noch, wie wir mit Brot eine Strumpfhose kaufen wollten. Im Lagerkrankenhaus arbeiteten Pflegerinnen und Putzfrauen. Die haben die Leichen ausgezogen und deren Kleidung gegen Brot an Häftlinge getauscht. Mehrere Tage hatten Icu und ich kein Brot gegessen, um ein ganzes Brot zu sammeln, damit wir dies gegen eine Strumpfhose für Icu tauschen konnten.

Aber nach dem Appell wurde uns nicht erlaubt, zurück in den Block zu gehen. So standen wir mit mehreren tausend Frauen auf dem gefrorenen, verschneiten Boden des Appellplatzes herum. Icu drückte sich das Brot in ihre Achselhöhle. Da stahlen zwei Zigeunermädchen Icu das Brot und liefen damit weg. Ich lief ihnen nach, Icu schrie: ›Komm zurück!‹ Nein! Ich kannte die beiden Diebinnen. Sie rannten in den Toilettenblock hinein. Da hielten sich ihre Kumpaninnen auf. Sie schlugen mich, wo sie konnten. Durch den Lärm kam ein Lageraufseher hinein. Er schlug mich mit seinem Gummistock. Glücklicherweise hatte ich eine Kapuze auf meinem Kopf – ich weiß nicht, woher ich sie mir besorgt hatte. Der Lageraufseher schlug mir mit dem Gummistock zwei Mal ins Gesicht. Die Welt vor mir wurde schwarz. Ich taumelte weg und fragte mich, ob ich nun blind werden würde. Dies dachte ich so kalt, als beträfe es mich nicht. Etwas floss von meinen Augen. Ich wischte es mit meiner Hand ab. Ich schaute, sah, dass es Blut war, und dass auch die Kapuze blutig war.

Ich wurde nicht blind, aber an beiden Augenbrauen war die Haut aufgeplatzt. Bis heute sieht man zwei Narben. Lediglich die Augenbrauen verdecken sie.

Icu war niedergeschlagen. Es war ein großer Verlust. Sie machte sich Vorwürfe, das Brot vielleicht nicht fest genug gehalten zu haben. Dazu kam, dass ich richtig verprügelt wurde. Aber auch dies überstanden wir.

Während unser Block unter Quarantäne stand, starben viele. Man sagte, sie starben aufgrund des Hunger-Typhus. Ich denke, sie verhungerten einfach.

Leichen gab es im ganzen Lager reichlich, denn aus dem Lagerkranken-haus, das Revier genannt wurde, kamen die Frauen selten wieder heraus. Aber trotzdem geschah ein kleines Wunder. Wir wurden draußen gezählt und Frauen aus anderen Blocks durften während der Quarantäne nicht in unseren Block kommen. Eines Morgens rief Magda Török: ›Meisels-Mädchen, kommt zum Fenster, jemand sucht euch.‹ Es war Anci! Unsere Schwester Anci, von der wir getrennt waren, seitdem sie wegen ihres Fußleidens ins Revier gekommen war! Sie sah gar nicht so schlecht aus. Sie war allerdings sehr traurig, denn sie hatte uns ungefähr fünf Wochen nicht mehr gesehen. In dieser Zeit verfielen Icu und ich physisch sehr. Anci wurde aus dem Kran-kenhaus entlassen. Ihre Füße waren geheilt. Erst sollten ihr die Füße ampu-tiert werden, aber sie wurden geheilt. Anci konnte im Revier den Pflegerin-nen bei der Arbeit helfen. Die Essensportionen der Sterbenden teilten sie miteinander. Anci bekam auch was davon, so baute sie körperlich nicht so ab wie Icu und ich.

Wegen der Quarantäne konnte Anci nicht in unseren Block kommen. So wurde sie in Block 18 versetzt. Aber die Blockälteste versprach ihr, sobald die Quarantäne aufgehoben werde, werde sie Anci bei uns wohnen lassen und sie werde eine andere Frau in ihren Block kommen lassen, damit die Anzahl stimme. Natürlich war es eine große Freude, dass etwas gut ausgegangen war und wir wieder voneinander wussten.

Ich erinnere mich nicht mehr an den Tag, an das Datum sowieso nicht, jedenfalls war es eines Morgens, da sprach Magda Török uns an und sagte, Erzsi sei heute Nacht gestorben. Sie sagte, wir sollen noch niemandem davon erzählen, denn sie wolle Erzsis Brotportion abholen. Ihre Schwester lag währenddessen tot neben ihr. Ein Gedanke traf mich im Herzen: ›Sind wir schon so weit gekommen?‹ Es gab keine Fürsorge, keine Trauer, nur das Brot war wichtig. Ja, wir waren so weit entwurzelt.

Es war Winter, kalt, wir froren. Während des ganzen Winters konnten wir uns nirgends aufwärmen. In diesem sehr kalten Winter musste ich zwei unterschiedliche Schuhe tragen. An meinem rechten Fuß trug ich einen schweren Stiefel mit Holzsohle. An meinem linken einen schwarzen Schnür-stiefel aus Leder, der einen drei, vier Zentimeter hohen Absatz hatte. Natür-lich hinkte ich. Abends zogen wir üblicherweise die Schuhe aus und legten sie uns unter den Kopf, damit sie uns nicht gestohlen werden konnten. Nachts gingen wir in unseren Kleidern und Mänteln schlafen. Eines Tages spürte ich, dass am großen Zeh meines linken Fußes etwas nicht in Ordnung war. Um den Zeh zu untersuchen, zog ich meine Strumpfhose aus. Ich stellte fest, dass mein großer Zeh ganz weiß war. Ich vermutete, dass es eine Frostbeule war, womit ich mich zufrieden gab, denn was hätte ich auch tun können.

Irgendwann Mitte Februar 1945 wurde die Quarantäne aufgehoben. Sofort wurden wir aus dem Block gejagt, vor der Küche Strafestehen. Wir sagten, vielleicht bestrafen sie uns, weil wir noch am Leben sind. Es waren schreckliche Stunden. Es war äußerst kalt und schon dunkel. Icu konnte sich neben mir kaum noch aufrecht halten. Ihren Kopf legte sie auf meine Schulter. Ich umfasste ihre Taille. Nach dem Stehen schlichen wir uns erschöpft zurück in die Baracke.

Am nächsten Morgen sagte Icu, sie könne nicht mehr Appellstehen, sie wolle zu der Baracke der Schwachen. Dort würden die Frauen in der Baracke gezählt werden und sie bekämen Kaffee, dort müsse man nicht raus. Ich wusste, dass sie nicht mehr stundenlang draußen stehen konnte. Ich konnte ihr also nicht widersprechen. Und sie machte sich auch schon auf den Weg zu dem Block. Ich rannte ihr nach und fragte sie: ›Icuka, du küsst mich nicht einmal?‹

Meine Schwester drehte sich um, beugte sich zu mir, küsste mich und ging. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.

Jeden Morgen sah ich, dass vor der Baracke der Schwachen das Sonderkommando die Leichen, die nackten Leichen auf ihren Karren stapelte. Ich hätte unter das Fenster gehen können, um meine Schwester zu sehen, morgens, wenn sie für den Kaffee anstanden. Wahrlich war es verboten und gefährlich, dorthin zu gehen, denn die Lageraufseher konnten kommen. Ich fürchtete mich aber nicht mehr vor den Prügeln. Ich fürchtete mich davor, Icu nicht in der Schlange der Wartenden zu sehen. Und so blieb mir noch Hoffnung.

Bis heute habe ich mir nicht verziehen, dass ich es nicht versucht habe, ihr in der morgendlichen Kaffeeschlange zuzuwinken. Vielleicht hätte es ihr gefallen und ihr Kraft und Mut gegeben, wenn sie mich winken gesehen hätte.

Ich ging zu dem Block, dem meine Schwester Anci zugeteilt war. Ich wollte unser Zusammensein forcieren. Ich fragte andere Frauen, wo Anci sei. Es wurde in eine Richtung gezeigt und gesagt, dass das Meisels-Mädchen dort auf der oberen Pritsche sei. Aber das Mädchen war nicht Anci, sie hieß nur wie wir Meisels. Sie stammte aus Munkács. Sie kannte Anci. Vielleicht zwei Tage zuvor war Anci ins Krankenrevier gegangen. Sie hatte Fieber und ihre Mandeln taten ihr weh. Ich sagte, dass Ancis Mandeln schon vor vielen Jahren entfernt worden waren. Ich war völlig niedergeschlagen. Am nächsten Tag wollte ich mich an das Fenster vom Krankenrevier stehlen, um etwas über Anci herauszufinden. Aber dann wurde ich plötzlich für einen Transport selektiert. Es war so Ende Februar 1945. Ich sah meine 27-jährige Schwester Icu und meine 29-jährige Schwester Anci nie wieder.

Das Kapitel "Ravensbrück" haben wir mit freundlicher Genehmigung des Autors Robert Scheer dem unlängst veröffentlichten Buch "Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück" als Leseprobe entnommen. Das Buch ist im Verlag Marta Press erschienen.

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