70 Jahre Care-Pakete in Berlin: Hoffentlich mit Schlackwurst
Am Sonntag vor 70 Jahren wurden in Berlin die ersten Care-Pakete verteilt. Die Empfänger fühlten sich wie im Schlaraffenland.
Welch ein Überfluss, das reinste Schlaraffenland, so musste dem Tagesspiegel-Leser erscheinen, was ihm am 15. August 1946 unter der Überschrift „Eßbare Grüße aus Amerika“ als Inhalt eines Pappkartons serviert wurde: „Zehn Pfund Büchsenfleisch, sechs Pfund Bisquits, vier Pfund Marmelade und Puddingpulver, zwei Pfund Gemüse, vier Pfund Süßigkeiten, ein Pfund Kaffee, Kakao oder Limonadenpulver, Butter, kondensierte Milch, Käse, Seife, Streichhölzer, Toilettenpapier – und auch Zigaretten.“
Bloße Alltagskost, keinerlei Haute-Cuisine-taugliche Zutaten – und doch für jeden Berliner damals ein Füllhorn voller Delikatessen –, der übliche Inhalt eines der ersten Care-Pakete, die in die ausgehungerte Stadt gelangt waren und an diesem Sonntag vor 70 Jahren unter ihren glückseligen Empfängern verteilt wurden.
Vier Tage zuvor hatte der Chef der Militärregierung im amerikanischen Sektor, Colonel Frank L. Howley, angekündigt, dass die ersten 4000 Pakete bereits in Bremen abgegangen seien, in Kürze erwartet und dann im amerikanischen, britischen, französischen, je nach Einigung vielleicht auch im sowjetischen Sektor, verteilt würden. Und tatsächlich trafen am selben Tag zwei Waggons auf dem zwischen Albrechtstraße und Feuerbachbrücke gelegenen Güterbahnhof Steglitz ein, mit dickem Draht gesichert und verplombt, vollgeladen mit den rund 22 Kilo schweren Paketen aus Beständen der US-Armee.
In den westdeutsche Besatzungszonen gab es die Pakete schon früher
In den Berlin war damit etwas später dran als die westdeutschen Besatzungszonen, wo die ersten Pakete bereits einen Monat zuvor angekommen waren. Hinter der Hilfsaktion stand der im November 1945 von 22 Wohlfahrtsorganisationen in den USA gegründete Dachverband Corperative for American Admittances to Europe (C.A.R.E.).
Die Idee war so simpel wie erfolgreich: Care kaufte überschüssige Armeebestände auf, halbierte die üblichen „Ten in One“-Pakete mit den auf einen Soldaten zugeschnittenen Zehn-Tages-Rationen und packte sie zu den bald hochbegehrten Care-Paketen um, die für anfangs 15, später 10 Dollar erworben und über die Hilfsorganisation nach Europa verschickt werden konnten – entweder an eine bestimmte, dem Spender bekannte, vielleicht sogar familiär verbundene Familie oder an europäische Wohlfahrtsverbände, die die Verteilung an besonders Hilfsbedürftige organisierten, dies alles unter der Anleitung von Care.
Im Februar 1946 stimmte US-Präsident Harry S. Truman dem Hilfsprojekt zu, kaufte gleich selbst 100 Pakete und forderte die Bevölkerung auf, diese bis dahin weltweit größte Hilfsaktion zu unterstützen. Und das taten die Menschen in den USA. Bis zu 15 Care-Paket-Schiffe legten pro Monat in Bremerhaven an. Bis 1963 schickte die Organisation etwa zehn Millionen Pakete mit Nahrung, Werkzeugen und anderen Hilfsgütern ins Nachkriegsdeutschland, über 100 Millionen waren es in ganz Europa.
In Berlin kamen mit der ersten Lieferung insgesamt 1480 Pakete an, 150 waren an Berliner Familien direkt adressiert. Der Steglitzer Bezirksbürgermeister Arthur Jochem selbst öffnete die Schiebetüren der beiden Waggons, deren Inhalt in das Magistratslagerhaus in der Lichterfelder Geranienstraße 2 gebracht und, wie der Bürgermeister versicherte, von der Polizei bewacht sowie durch Alarmanlagen gegen Plünderer „vorbildlich gesichert“ wurde.
Die ersten Care-Pakete wurde in einem ehemaligen SS-Gebäude verteilt
So war die Geranienstraße 2 innerhalb von gut einem Jahr aus einem Ort des Schreckens zu einem der Hoffnung geworden. Denn der dortige Häuserkomplex gehörte zu dem von 1942 bis 1945 unter der Sammeladresse Unter den Eichen 129–135 ansässigen SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt. In der Geranienstraße hatte die Amtsgruppe C unter SS-Gruppenführer und General der Waffen-SS Hans Kammler ihre Büros, von hier aus organisierte sie die baulichen Aktivitäten der SS, so auch den Bau der Konzentrationslager samt den Gaskammern und Verbrennungsöfen.
Im weiteren Verlauf des Krieges wurde Kammler, diplomierter Architekt und Doktor der Ingenieurwissenschaften, auch verantwortlich für den Bau der unterirdischen Produktionsstätten der „Wunder- und Vergeltungswaffen“ wie der Me 262 und der V2, teilweise auch für deren Einsatz. Unter seinem Kommando wurden im März 1945 im Arnsberger Wald über 200 Zwangsarbeiter erschossen. Am 9. Mai 1945 nahm er sich in Prag das Leben, später gab es Spekulationen, er habe sich mit seinem Fachwissen in der Raketenproduktion in den Schutz der US-Geheimdienste begeben.
All dies also verbarg sich hinter dem schlichten Wort „Magistratslagerhaus“ an Geschichten, aber das wird die ausgehungerten Menschen kaum gekümmert haben, die am 14. August 1946 vor der Geranienstraße 2 auf die Ausgabe der Pakete warteten. Es war an diesem Tag nicht der einzige Ort in Berlin, an dem Care-Pakete verteilt wurden, im Tagesspiegel gab es auch Hinweise auf Lagerhäuser in der Berliner Straße (heute: Ostpreußendamm) und am Hindenburgdamm in Steglitz.
Aber die Geranienstraße 2 hatte man für den offiziellen Start ausgesucht, hier warteten der Vorsitzende des für Deutschland zuständigen Care-Komitees, Mr. L. Gable, und die Leiterin der Wohlfahrtsabteilung bei der amerikanischen Militärregierung, Miss M. Biklen, auf die ersten Paketempfänger, und hier warteten auch die Reporter und Pressefotografen. „Frau Erna Pfeiffer aus Steglitz – eine Hausfrau, die Karte fünf erhält – war die erste Berlinerin“, die eines der „Care-Liebesgaben-Pakete“ in Empfang nahm, berichtete der Tagesspiegel. Ein Rentnerehepaar hatte ein Paket von ihrem in Brooklyn lebenden Sohn erhalten, eine junge Mutter eines von ihrer Cousine in Connecticut. Auch sie gehörten zu der „Reihe glücklich lachender Menschen, deren Freude sich teils in lebhaftem Erzählen, teils aber auch in überwältigtem Schweigen, ja sogar durch Tränen äußerte“ – so stand es in der Zeitung.
„Schlagen Sie die mal für ein Care-Paket vor“
Noch heute schwärmen Menschen, die solch ein Paket bekamen, von dem Moment, als sie es in Händen hielten, es öffneten. „Wie im Märchen“ hatte sich die heute in Neukölln lebende Anita Stapel gefühlt, „als würden alle Festtage des Jahres auf einen Tag fallen“. Das war 1948, auf dem Höhepunkt der Luftbrücke, als an allem größter Mangel herrschte und die West-Berliner von solchen Liebesgaben besonders abhängig waren.
Und ausgerechnet in diesen Monaten, als die zugeteilten Lebensmittel kaum für einen reichten, musste die damals 20-jährige Anita Stapel für zwei essen: Sie war schwanger. Ihrem ungeborenen Sohn schadete der Kalorienmangel offensichtlich nicht, er ließ sich nur etwas mehr Zeit als üblich, hatte dann aber ein ganz normales Gewicht. Sie selbst aber, 1,62 Meter groß, wog nach der Geburt in der damaligen Frauenklinik des Urbankrankenhauses nur noch 48 Kilo.
Jede Rippe habe man bei ihr zählen können, erzählt sie heute. Als sie nach den damals üblichen zehn Tagen entlassen werden sollte, drückte man ihr für die Schlussuntersuchung den kleinen Sohn in den Arm und schickte sie ein Stockwerk tiefer zum Arzt, was sie nur mühsam, immer in Angst vor einem Schwächeanfall, schaffte. Das Kind wurde erneut für gesund befunden, sie selbst bedachte der Arzt nur, wie sie es empfand, mit einem leicht angewiderten Blick, dem eine Anweisung an die Schreibkraft folgte: „Schlagen Sie die mal für ein Care-Paket vor.“
Und tatsächlich: Zwei, drei Wochen später erhielt sie mit der Post eine Karte, dass sie sich solch ein Paket abholen könne. Also stand sie an dem genannten Tag in einer langen Schlange vor einer DRK-Verteilstelle in Dahlem, um sich herum verhärmte Menschen, „die alle so aussahen wie ich“ – voller Vorfreude, in die sich aber eine gewisse Bangigkeit mischte. „Jedes zehnte Paket enthält Schlackwurst, die anderen Thunfisch“, so hatte die Frau am Schalter gesagt. Thunfisch? Davon hatte Anita Stapel noch nie gehört.
Allein trug sie das Paket nach Hause, nach Kreuzberg, wo sie mit Mann und Kind bei der Großmutter wohnte. Hoffentlich kein Thunfisch, ging es ihr pausenlos durch den Kopf. Schon das Dosenfleisch, das ab und zu zugeteilt wurde, bekam sie doch nicht runter. Ihr Wünschen hat offensichtlich geholfen: Im Paket steckte eine Schlackwurst.
Anlässlich des 70. Jubiläums der ersten Care-Pakete in Berlin ist die Hilfsorganisation an diesem Sonntag den ganzen Tag über an der Ausstellung „BlackBox Kalter Krieg“ in der Friedrich- Ecke Zimmerstraße präsent. Um 14 Uhr (englisch) und 16 Uhr (deutsch) werden von Care kostenlose Führungen durch die Ausstellung angeboten.