Verzögerung am Flughafen BER: Hinterm Bauzaun herrscht Ruh'
Ein Restaurantbesitzer hat sein Lokal im Flughafen BER zunageln lassen, im Airport-Hotel versucht man Schäden durch den Stillstand zu verhindern. Schließlich ist die Eröffnung noch in weiter Ferne. Besuch am Ort einer Entschleunigung.
Die Spatzen proben Sturzflüge an der Böschung und setzen sich dann paarweise auf den provisorischen Gitterzaun. Die losen Stäbe klirren leise im Ostwind. Ein Turmfalke schwebt über die Flughafenwiese vor dem Zaun. Klatschmohn, Margeriten, weißer Klee, violette Taubnesseln blühen unter einem tief verhangenen Herbsthimmel. Zwei Bundespolizisten im Landrover biegen auf den Feldweg ein, fahren im Schritttempo über die Wiese und die Kiefernschonung bis zur Bahntrasse. Nachher werden sich die beiden Männer im Burger-Restaurant an der Total-Tankstelle eine Pause gönnen. Das Restaurant ist schon offen. Tanken geht auch.
Noch ein Jahr bis zur Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg Willy Brandt. Fast alles ist fertig, sagt der neue Technikchef Horst Amann, nur die Brandschutzanlage macht noch große Sorgen. „Heerscharen von Programmierern“ seien dabei, die Probleme zu lösen. So lange steht der Flughafen still.
Das neue Kraftwerk pustet hellen Rauch aus seinen schlanken Schornsteinen. In den Büroräumen von Condor ist Licht. Die jungen Linden am Willy-Brandt-Platz verlieren ihre Blätter, die auf dem Pflaster dunkle Flecken bilden. Ein Mann in roter Flughafenweste poliert eine Tafel mit dem Lageplan des Flughafens. Sie steht hinter dem Bauzaun. Unerreichbar. Ein Lkw aus Frankfurt am Main parkt am Platz. Die Firma Stamm Spezialtransporte lädt Geldautomaten aus dem Terminal ein. „Die braucht ja jetzt keiner“, sagt der Mann am Ladekran. In einem Jahr wären sie ohnehin technisch veraltet.
Weit weg von hier, auf einer Anhöhe über dem Flughafenzaun, den Kienitzer Bergen, steht Christian Schonack, die Hände tief in den Latzhosentaschen vergraben, und schaut lange in die große baumlose Flughafenebene und den leeren Himmel darüber. Von Westen gesehen wirken Terminal und Tower wie ein gestrandeter flügellahmer Albatros. Vorne rechts, der helle Streifen, das ist die südliche Landebahn, der Vierkilometerauslauf für die Riesenvögel von Boeing und Airbus. Ein friedlicher Anblick, so ohne Turbinendonnern.
Am 21. Dezember soll Schonack, Maschinenschlosser von Beruf, Haus und Garten dem Flughafen ausliefern. Darauf haben sich beide Seiten im Februar geeinigt. Geld gegen Heimat, „der Flughafen hat ein faires Angebot gemacht“, sagt Schonack. Im Dezember würde der Lärm der Flugzeuge, die über die Kienitzer Berge hinwegdonnern, längst jedes erträgliche Maß überschritten haben, so durfte er annehmen. Nun wird es im Dezember genauso erträglich sein wie im Februar. Vielleicht liegt auch wieder eine dicke Schneedecke wie auf den Fotos im Familienalbum.
Seit mehr als 30 Jahren baut Schonack an seinem Datschenwohnsitz. Hier sind seine Kinder aufgewachsen. Früher stand vor dem Haus ein Wald, und es gab Tümpel und einen kleinen See. Dort sind die Kinder Boot gefahren und im Winter Schlittschuh gelaufen. War ja fast wie im Gebirge früher, so hoch türmte sich der Schnee auf den Tannen und Torpfosten.
Des einen Glück, des anderen Leid
Aber jetzt fehlen die hohen Eichen, das Blätterdach der Siedlung. Abgesägt, wegen der Flugsicherheit, drei Stümpfe zeugen davon. Mit den Bäumen ist das alte Leben von Schonack gefällt worden, ein tiefer Schnitt. Doch er will nicht klagen, keine Bitterkeit zulassen. „Des einen Glück ist des anderen Leid“, sagt er mit Blick auf das ferne Terminal. Erst war das Leid auf seiner, nun ist es auf der anderen Seite, jenseits des Zauns. Es liegt ehrliches Mitleid in seiner Stimme. Aber auch ein Quäntchen Schadenfreude. Er wird mindestens ein Jahr länger bleiben können, das reicht bis zur Rente. „Mehr Zeit, um mir in Ruhe was Neues zu suchen.“
Der Flughafen hat einen breiten Keil in die Landschaft geschoben, dabei Straßen, Wege und Felder durchtrennt und die Ränder des Keils mit Gitter und Stacheldraht bewehrt. Dahinter ein asphaltierter Weg und ein Spalier hoher Laternen, mit langen Stacheln auf den Schirmen, damit sich keine Vögel draufsetzen. Ein Spezialfahrzeug mit Mäh arm raspelt den kurzen Bewuchs am Zaun noch kürzer.
Der Grenzzaun zur BER-Stillstandszone, die offiziell „Flugbetriebsfläche“ heißt, steht hier schon lange. Den haben die Flughafenanrainer eingepreist in ihr Leben, genau wie den künftigen Lärm und die Staus. Ihr Schicksal ist an den BER geknüpft. Der bringt vielen ja auch gutes Geld. Und was ist, wenn in einem Jahr immer noch keine Flieger von der Südbahn abheben?
Tagsüber brennt Licht unterm Terminaldach, am Bahntunnel und in einem der Parkhäuser. Nachts sind die Straßen und Plätze des Flughafens beleuchtet, kein grelles Licht, eher ein Glimmen, das von dunklen Zonen unterbrochen wird. Kein Mensch ist zu sehen. Singvögel ziehen nachts über den Flughafen und zerschellen an der gläsernen Terminalfassade. Der Naturschutzbund spricht von einer Vogelfalle.
Der Infotower liefert einen Überblick. Auf der Aussichtsterrasse warnen Aufkleber vor Lärm. Maximal 110 Dezibel könnte es hier geben, wäre der Flugbetrieb in vollem Gange. Ein Vater hat seine Tochter auf die Balustrade gesetzt und tröstet sie über die lange Zeit bis zum nächsten Easyjet-Anflug hinweg, nebenan auf dem alten Flughafen. „Da sitzt Onkel Hanne drin. Der kommt aber erst in zehn Minuten.“ Der Wind ist kühl und feucht.
Unten sind die verschlungenen Asphaltbänder zu sehen, die das Flughafen-Ensemble aus Piers, Logistikzentrum, Kraftwerk, Feuerwehr und Parkhäusern miteinander verbinden, elegant und kreuzungsfrei. Mal fährt ein kleines Postauto auf einer von vier Spuren, mal ein Transporter, seltener ein Bus. Zwei Linien haben den Willy-Brandt-Platz im Fahrplan, der 734er kommt jede Stunde einmal, fährt langsam Richtung Terminal und kommt doch immer zu früh an. Diesmal sitzt eine Frau mit Strickmütze drinnen, drittletzte Reihe. Sie sieht versonnen aus dem Fenster, steigt aber nicht aus.
Die Ampeln stehen am Flughafen immer auf Grün, weil es keine Fußgänger gibt, die sie auf Rot schalten. Was schade ist, weil schlaue Technik eingebaut wurde. Das Toktoktok für sehbehinderte Fußgänger wird lauter, je stärker der Umgebungslärm anschwillt. Das ist wegen der Flugzeuge, aber auch bei heranrollenden Sattelschleppern sehr hilfreich.
Gregor Klässig schätzt dauerhafte Grünphasen und bedauert, dass sie nur auf den Zufahrtsstraßen des Flughafens gelten. Er leidet sehr unter dem Jahr Nichtstun, das ihm noch bevorsteht. Letztens war er wieder zu Besuch in der Abflughalle. Niemand da außer ihm und einem Fernsehteam vom ZDF. „Wie auf dem Friedhof.“ Er kontrolliert regelmäßig, ob sein „Fish & Chips-Restaurant“ noch so dasteht, wie er es im Mai hat zunageln lassen. Bis dahin hatte Geschäftsführer Klässig – ein Mann in den 30ern, gelernter Koch, sportlich, dynamisch – zwei Jahre auf den Moment der Flughafeneröffnung hingearbeitet. Er hätte den 3. Juni 2012 halten können, trotz Behinderungen durch das BER-Baumanagement. Es hätte sein sechstes Restaurant werden sollen und sein bestes, bislang machte er nur Bahnhöfe.
Und dann das Aus. Klässigs ökonomischer Verstand schaltete sofort um, von Expansion auf Schadensbegrenzung. Keine Zeit verschwenden mit nutzlosen Wie-konnte-das-passieren-Fragen. Die Lampen für sein Restaurant konnte er gerade noch zurückgeben, auf Kommission, die restlichen 250 000 Euro Bankkredite sind ausgegeben, sitzen fest im „Food Court“ des Flughafens. Ob die komplizierte Küchentechnik funktioniert, weiß Klässig erst, wenn sein Restaurant eröffnet, frühestens in einem Jahr. Die Garantie für die Geräte läuft in wenigen Monaten aus.
Heimlicher Betrieb im Flughafenhotel
Der Willy-Brandt-Platz vor dem Terminal ist das Prunkstück des neuen Flughafens, modern, fast ein wenig mondän, XXL-Bänke aus wetterfestem Edelholz, eine Terrasse zum Sonnenbaden am Springbrunnen mit Fontänen, die zeitlich parallel zu den Flugzeugen aufsteigen sollen. Der Platz bereitet den Fluggast auf Berlin vor, ist imageprägend für die Hauptstadt. Seit Monaten ist er fertig, aber niemand darf ihn ohne Ausweis, Arbeitsschuhe, Weste und Schutzhelm betreten. Warum verstehen es die Flughafenmanager nicht, diesen Ort vorzuzeigen? Es gibt Dinge am Flughafen, die gelungen sind, könnte die Botschaft sein.
Da können die Flughafenmanager etwas von ihrem Nachbarn lernen, von Torsten K. Schulze, dem Direktor des Steigenberger Flughafen-Hotels in der stillgelegten Airport-City vor dem Terminal. Schulze trägt einen schwarzen Anzug mit Einstecktuch und durchmisst mit wehenden Rockschößen die dröhnend leeren Weiten seines Hauses. Er ist mit äußerster Akribie dabei, den Stillstand zu managen, die „sehr lange Voreröffnungsphase“, wie es seine junge Assistentin mit einem Lächeln ausdrückt. Für eine so lange Durststrecke kenne er keinen Präzedenzfall weltweit, sagt Schulze, der schon in den USA, in Argentinien und in der Flughafenstadt Frankfurt am Main den Hotelbetrieb kennen gelernt hat.
Das Steigenberger-Hotel sollte im August eröffnen, doch ohne Fluggäste hatte das keinen Sinn, also entschied die Konzernleitung, den nagelneuen Hotelbau in die „stille Bewirtschaftung“ zu übernehmen. Das 322-Zimmer-Haus blieb geschlossen, nahm aber heimlich den Betrieb auf, um sich vor Stillstandsschäden zu schützen. Ein genialer Coup, wenn auch nicht ganz billig. Auf diese Weise konnte in aller Seelenruhe erledigt werden, wofür bei normalen Hoteleröffnungen immer die Zeit fehlt: Baumängel beseitigen, die Inventarlieferungen kontrollieren und das Hotel auf Herz und Nieren testen. In jedem der 322 Zimmer hat ein Mitarbeiter eine Nacht Probe geschlafen. Gibt es unangenehme Geräusche? Zieht es irgendwo? Ist die Matratze zu hart?
Ein Problem sind die weichen, schallschluckenden Teppiche. Damit sie keine Druckstellen bekommen, steht jedes Stuhlbein auf einem Bierdeckel, jeder Tischfuß auf einer Pappe. Die 24-Stunden-Bar für Vielflieger mit ihren chromblitzenden Säulen und den hochgereckten Banklehnen ist jetzt 24 Stunden am Tag geschlossen. Die Klimaanlage läuft trotzdem. Im Sommer, wenn es heiß wird, plant Schulze einen klimatechnischen Hochbelastungstest mit vielen Statisten.
In einem Zimmer krachte der Badezimmerspiegel aus der Verankerung. Wäre bei laufendem Betrieb eine peinliche Sache geworden. In der stillen Bewirtschaftung bringt so ein Malheur vor allem Vorteile. So können nun alle 322 Badezimmerspiegel sicher verankert werden, damit ist das Problem aus der Welt.
„Die Leistungsbeschreibung zur stillen Bewirtschaftung umfasst 15 Seiten“, erklärt Schulze bei der Visite der Lagerräume im Keller. Jedes Mal nach Entnahme eines Inventarstücks werden die Türen neu versiegelt, so kann nichts verschwinden. Beim Zuhören drängt sich der Eindruck auf, der Hotelchef sei froh über das BER-Debakel. Ist er natürlich nicht. Aber ökonomisch nehme Steigenberger durch den langen Stillstand keinen Schaden, versichert Schulze. Wie das gehen kann, darf er allerdings nicht verraten.
Man kann also vermuten, dass als Folge des Flughafen-Desasters die Steigenberger-Gäste einen perfekten Hotelbetrieb erleben werden, ohne Handwerkerlärm oder brummende Lüftungen. Auch das neu eingestellte Hotelpersonal darf sich erst mal in anderen Steigenberger-Häusern ausprobieren. Schulze will über die lange Voreröffnungsphase drei Videos drehen lassen und als Werbung für das Flughafen-Hotel auf Youtube hochladen.
Stillstandsmanagement, das könnte ein neuer Ausbildungszweig für Führungskräfte werden. Stillstand ist der Tod für alles, was sich seinem Zweck nach bewegen muss. Wie Fahrstühle, Rolltreppen, Springbrunnen und Flugzeuge. Immerhin trotzen die Linden-Alleen an der Flughafenwiese dem gefährlichen Phänomen. Das Jahr bis zur voraussichtlichen Inbetriebnahme des BER am 27. Oktober 2013 werden sie sinnvoll nutzen und wachsen.