Der Weddinger Volksdichter Jonny Liesegang: Herbes, unjeschminktes Leben
Der Berliner schafft sich ab, wird verdrängt, stirbt aus? Kein Problem. Es gibt ja die wunderbaren Alltagsstorys des Weddinger Heimatdichters Jonny Liesegang, die auch nach 75 Jahren den Charakter dieser Stadt und ihrer Bewohner wunderbar beschreiben. Ein Blick in Liesegangs Werk.
Des Berliners größtes Problem im Jahr 2013 ist ja, dass es ihn nicht mehr gibt. Oder falls doch: dass er nicht mehr zu finden ist. Von jungen Bohémiens aus NRW und Andalusien an den Stadtrand gedrängt, hockt er in Tegel und Staaken oder Marzahn und weint in sein letztes Schultheiss, bevor die Eckkneipe auch hier schließen muss.
Im Wedding, einer der letzten innenstädtischen Bastionen des Immer-noch, findet man ihn (und natürlich auch sie, des Berliners Frau) sicher noch häufiger als anderswo, wenn auch hier auf dem Rückzug. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass die Geschichten des Weddinger Schriftstellers Jonny Liesegang, vor 75 Jahren erstmals veröffentlicht, noch heute ihre Wirkung entfalten.
Ganz so kodderig, so spitzbübisch und ereifernd charmant wie die Protagonisten des ersten von insgesamt drei Bänden der „Det… fiel mir uff!“-Reihe waren die Weddinger in Wirklichkeit vermutlich nie. Aber wer noch echte Berliner kennt (ja, es gibt sie noch), der wird feststellen, dass sich hinter all den „Knallschrullen“, „Jiftjulen“, „Schnüffelneesen“ und „Schandschnauzen“, die Liesegang zu Wort kommen lässt, sehr viel des urtümlichen Charakters dieser Stadt und ihrer Bewohner verbirgt. Der wird immer mal wieder auf eine Formulierung stoßen, über eines dieser irrwitzigen Synonyme, die man so oder so ähnlich schon mal gehört hat, irgendwo in der Tram, die bei Liesegang noch „Elektrische“ heißt, oder auf der Straße oder doch am Tresen.
Frollein Knurpel, die alte Knallschrulle
„Schnafte Geschichten und dufte Bilder“, so hat Liesegang seine Story-Sammlung aus dem Alltag genannt, der trist gewesen sein mag im Arbeiterstadtteil, „uff’n Wedding“ also, aber bei Liesegang so viel Lebensfreude und Wortwitz versprüht. Der kleine Mann, die kleine Frau, das sind die Helden dieses Buches, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erschienen, nicht lange bevor die Nazis Liesegang die Arbeit verboten. So schreibt er mit den frechen, großstadtschlauen Dialogen der Otto-Normal-Weddinger natürlich auch an gegen die zerstörerische Gleichmachung durch die faschistischen Machthaber. Bei Liesegang dagegen: „die herbe, unjeschminkte Praxis im Leben“.
Seine Figuren sind eine skurriler als die nächste, wie „Wimmer-Heini“, der Leierkasten-Mann, oder Frollein Knurpel, „die alte Knallschrulle“, sie drohen an den Banalitäten des menschlichen Miteinanders zu verzweifeln, arbeiten sich am Leben ab und denen, die doch auch nur daran teilnehmen wollen in ihrer eigenen Schrulligkeit, bei denen es jedoch ganz selten nur einem „die Stimmritze vaschlägt“.
An Orten spielen die Storys, die es längst nicht mehr gibt, in Hinterhöfen grauer Mietskasernen, in der Schlange am Fahrkartenschalter des S-Bahnhof Wedding oder im „Café Münchhausen“ an der Seestraße. Spezialisiert hat sich Liesegang dabei auf das Zwiegespräch zwischen den Geschlechtern, meist unter Eheleuten, das fast immer ausartet, wovon schon die Titel zeugen wie „Hedwich, die Leute kieken“ und „Fassen Sie mir nich an, Sie Lulaatsch!“ Da führen also regelmäßig Lappalien wie ein abgerissener Hosenknopf oder der Kauf neuer Lackschuhe zu schweren Spannungen, ergo: zu akkurater Weddinger Schreierei. Da fliegen auch immer mal wieder die Hände, werden Maulschellen verteilt und Backpfeifen, selbstverständlich nur aus erzieherischem Vorsatz, egal ob für Klein oder Größer.
Am stärksten und ulkigsten wirkt der Berliner Slang, in den Liesegang all seine Dialoge setzt, immer dann, wenn er hanebüchene Synonyme entwickelt, für Personen wie Alltagsgegenstände. Wenn beispielsweise die Damenschuhe nacheinander zu „Mistbotten“, „Stöckelstelzen“, „Husarenstiebeln“, „Klotzpantinen“ und „lackierten Lederprellen“ werden.
Und wenn alles nicht mehr hilft, wenn sich alle zerstritten haben, dann finden sich garantiert immer noch zwei, die übrig sind, um in der Kneipe „eenen zu schnasseln“.
Durchsetzt sind die pointierten Kurzgeschichten mit der Stadtromantik der industrialisierten Metropole, wenn etwa der Autor am Ufer des Tegeler Sees sitzt, im Schein bunter Lampions, die Wellen gegen die Bäuche der Leihboote gluckern, „und von drüben her, von Borsig, quietschten die Ladekräne“.
Aber natürlich leitet die Idylle nur das nächste Verbalduell zweier bierernster Städter ein, die das Schicksal in der großen Stadt grundlos zusammengewürfelt hat, so wie die beiden sich gegenüber sitzenden Ringbahn-Fahrer, die mit folgenden wunderbaren Worten eröffnen, mit denen wir hier schließen wollen, ein Dialog, dessen Essenz bis heute fortlebt in der Hauptstadt der freundlichen Unfreundlichkeit:
„Wollen Sie nu nich endlich det Fenster zumachen? Et zieht!“ - „Wenn et Ihnen zieht, denn lejen Sie sich det nächste Mal in eenen Seifenpulverkartong mit de Uffschrift: 'Vorsicht! Sehr empfindlich!', und lassen Se sich als Wertpaket befördern! Det Fenster aber – bleibt uff!“
Dem Autor Johannes Ehrmann auf Twitter folgen: @johehr
Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.
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