Grünen-Kandidat in Berlin-Kreuzberg: Hans-Christian Ströbele: Der Bürgermonarch
Die Straße ist sein Büro, sein Arbeitsplatz – viel mehr noch als der Bundestag. Christian Ströbele fühlt sich da wohl, wo er zuhören kann, wo das wahre Leben ist. In Kreuzberg, seinem Reich, seinem Wahlkreis, den er im September erneut gewinnen will.
Der König ist schmal geworden. Die Wangen unter den immer buschiger werdenden Brauen sind ein wenig eingefallen. Aber er hält sich gerade, und es braucht nur einen Anstoß, dann ist die Leidenschaft zu spüren, die er immer noch hat. Dann spricht er etwa davon, dass er dem päpstlichen Nuntius geschrieben hat, dass der sich einsetzen soll für die Flüchtlinge in Berlin, so wie der Papst es in Lampedusa getan habe.
Manchmal, gibt Hans-Christian Ströbele zu, hadere er mit seinem Körper, der nicht mehr so will wie er. Der 74-Jährige hat ihm vieles abgerungen, leidenschaftliche Auftritte auf Parteitagen, hartnäckige Aufmerksamkeit in stundenlangen Ausschusssitzungen und lange Nächte beim akribischen Aktenstudium. Und jene unzähligen Demonstrationen, Blockaden und Protestaktionen, bei denen er dabei war. Jetzt ist Hans-Christian Ströbele, der auch von Grünen scherzhaft „König von Kreuzberg“ genannt wird, obwohl er selbst nie dort gelebt hat, wieder auf der Straße. In seinem Reich, mitten in Kreuzberg, in dem Wahlkreis, den er am 22. September erneut direkt gewinnen will.
Warum tut er sich das noch einmal an? Vor über einem Jahr wurde Prostatakrebs diagnostiziert. Monatelang hat er darüber geschwiegen, während er die Tortur der Chemotherapie erduldete. Er wollte damit erst persönlich klarkommen, bevor er die Krankheit öffentlich machte. Nun, so sagt er, habe er den Krebs überwunden. Er ist bereit, die Anstrengung eines Wahlkampfes auf sich zu nehmen. Auch jetzt noch betont er, dass er keine einzige Bundestagssitzung verpasst habe und zur Chemotherapie erst abends nach den Ausschussterminen ging, als müsste er sich dafür rechtfertigen. „Das ist eben meine Art, damit umzugehen“, sagt er nur. Auch jetzt sitzt er täglich bis tief in die Nacht in seinem Bundestagsbüro oder in den Räumen seiner Anwaltskanzlei. Eigentlich wollte er sich auf die Vorlage des Berichts zum NSU-Nazi-Terror konzentrieren, doch der NSA-Spionageskandal, wo er zu Höchstform aufgelaufen ist, fordert nun seine ganze Kraft.
Woher all die Kraft kommen soll, obwohl er sich eingestandenermaßen ziemlich einseitig ernährt? Zwei Liter Milch trinkt er am Tag, mittags reicht ihm ein Joghurt, dafür kann er süßem Kuchen nicht widerstehen. Ein Genussmensch ist dieser König nicht, eher einer, der seinen Körper als notwendige Maschine begreift, um die man möglichst wenig Aufhebens macht, die funktionieren soll, aber einen bitte nicht belästigen möge bei den Dingen, die wirklich wichtig sind. Die Weltrevolution etwa.
Als Ströbele 70 wurde, hat er auf die Frage geantwortet, warum er noch weitermachen will: „Weil es mit der Weltrevolution noch nicht geklappt hat.“ Die Revolution ist vier Jahre später immer noch nicht in Sicht, und er tritt noch mal an, sein Königreich Kreuzberg im Bundestag zu vertreten .
Kann der denn kein Ende finden?
Ja, kann der denn kein Ende finden? Er könne verstehen, wenn die Leute so dächten, sagt Ströbele: „Aber ich habe noch viel zu tun.“ Außerdem sei er immer gegen die Rente mit 67 gewesen, sondern dafür, dass Menschen so lange arbeiten sollten, wie sie möchten. Er spricht von den „Chancen, dass sich jetzt etwas bewegt – da will ich mithelfen“. Ob er das darf, wird er am Abend des 22. September wissen, wenn die Stimmen im Wahlkreis 83 ausgezählt sind, der ziemlich genau den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg umfasst. Er drückt es so aus: „Mein Arbeitgeber, die Bevölkerung, hat Gelegenheit, mein Arbeitsverhältnis zu verlängern.“ Dreimal haben seine Arbeitgeber schon zugestimmt, erstmals 2002, als Ströbele das damals erste und einzige Direktmandat von Bündnis90/Die Grünen holte.
Deswegen sitzt er nun auf dem staubigen Kreuzberger Oranienplatz unter einem blau-weiß gestreiften Zeltdach, auf das die Sonne knallt, so dass die Luft darunter immer stickiger wird. Er hört den Menschen zu, die hier seit acht Monaten in einem illegalen Camp leben. Er ist gekommen, auch wenn sich von anderen Parteien niemand an den runden Tisch setzen wollte, um über das weitere Schicksal der Flüchtlinge zu sprechen. Ein Versuch, zu befrieden, weil die Nerven blankliegen bei den verzweifelten Flüchtlingen – und auch den Anwohnern. Vor allem die CDU versucht, aus der prekären Situation Funken zu schlagen. Da könnte ein Feuer entstehen, das ist Ströbele bewusst. In rosa Hemd und weißer Hose schaut er über den Platz, wo im trockenen Gras die Zelte stehen, und zuckt nicht, als die Flüchtlinge erklären, dass ihnen ja nichts anderes übrig bleibe, als kriminell zu werden, weil sie ja nicht arbeiten dürften. Ein gefährliches Argument.
Ströbele ist auf ihrer Seite, er fordert, dass Artikel 1 des Grundgesetzes, der allen Menschen, nicht nur Deutschen, die Achtung der Menschenwürde garantiert, endlich verwirklicht wird – in Deutschland und in Europa. Das ist die ganz große Geste, weil jede kleine Lösung so hoffnungslos weit entfernt ist. Die Flüchtlinge sollten Delegationen bilden, empfiehlt Ströbele, um ihre Forderungen „heranzutragen“ an jene Politiker, die dem runden Tisch ferngeblieben sind. Um eine Lösung auf der Straße zu suchen, so könnte man das verstehen.
Die Straße ist sein Büro, viel mehr als der Bundestag, auch wenn er auf dessen Bühne hochprofessionell agiert und aktuell seine Empörung über die Datenspionage der USA und die Untätigkeit der Kanzlerin gekonnt auf die Bildschirme bringt. Gerade jetzt, wo er quasi im Alleingang die Politik der Grünen im NSA-Skandal formuliert und ihr ein Gesicht gibt. Wo er immer präsent ist und prägnant, bis hin zur Forderung, die Kanzlerin selbst müsse sich dem geheim tagenden parlamentarischen Kontrollgremium stellen, dem Ströbele seit Jahren angehört.
Ströbele erläuft sich sein Königreich; immer noch sein uraltes Rad mit dem verblichenen „taz“-Aufkleber dabei – ob bei Demonstrationen oder am randaleträchtigen 1. Mai. „Die Straße ist der Ort, an dem sich in der Demokratie der politische Wille bildet.“ Das ist ein Satz, den so wohl nur Ströbele sagen kann, ohne peinlich zu wirken. Gerade in der Nahdistanz, wo er zuhören kann, wo er mitfühlend sein kann, ist sein Charisma erfahrbar. Wildfremde Menschen sprechen ihn an, als wäre er ein alter Bekannter, nicht ganz nüchterne Kneipenbesucher klopfen ihm anerkennend auf den Rücken und nuscheln, er solle sich bloß nicht verbiegen lassen „von denen“, wer immer die sein sollen.
Ströbele verkörpert ein alternatives Kreuzberg
Was würde ein Amt aus diesem guten Bürgermonarchen machen, der davon lebt, ein Empörungsrhetoriker zu sein, der ein widerständiges und alternatives Kreuzberg verkörpert, das es so eigentlich schon seit Jahren nicht mehr gibt. Es ist der Widerschein einer Utopie, der den Mythos Ströbele ausmacht. Denn den guten König kann es nur im Märchen geben; das wissen seine Wähler, aber sie wünschen sich die Illusion eines guten Monarchen ohne Wenn und Aber, ohne Kompromisse und Lauheiten der Politik. Das Direktmandat gibt ihm „die Freiheit, das grüne Gewissen“ zu sein, und sich jeder als persönlich falsch empfundenen Fraktionsdisziplin zu widersetzen. Wie 2011, als er leidenschaftlich dagegen kämpfte, dass die Grünen dem Atomausstiegsgesetz von CDU/FDP zustimmten, weil der letzte Meiler erst 2022, und nicht schon 2017 ausgehen soll.
Ströbele verlor. Aber dennoch fühlt er sich in vielem bestätigt: Seine Zweifel am Afghanistan-Einsatz teilen heute alle, und die EU-Rettungspakete für Griechenland, die Ströbele ablehnte, halten inzwischen auch viele andere für falsch konstruiert. Der älteste Abgeordnete, der zugleich der radikalste der Fraktion ist, nimmt in Kauf, dass er es seiner Fraktionsspitze schwer macht, wenn er sich allen taktischen Positionen verweigert. Das hat seinen Preis. Nur selten darf er im Plenum des Bundestags sprechen. Nein, ausgegrenzt werde er nicht; „ich grenze mich selber ein wenig aus“, konstatiert er nüchtern. Dafür aber erhalte er viel Zuspruch von jungen Abgeordneten. Und auch aktuell spüre er an den vielen Einladungen aus grünen Kreisverbänden, im Wahlkampf aufzutreten, wie viel Rückhalt er habe.
Wer den Juristen Ströbele, der sein Referendariat genau an jenem 2. Juni 1967 antrat, an dem Benno Ohnesorg erschossen wurde, als Gewächs der undogmatischen und antiautoritären Linken sieht, liegt falsch. Dieser 1939 in Halle/Saale geborene „Antiimperialist“ ist ein Kriegskind, dem die Entbehrung und die Vertreibung seine lebenslange, genussabstinente, auch körperfeindliche Disziplin mitgegeben haben. Der als Junge mit seinem Onkel, dem legenderen Radioreporter Herbert Zimmermann („Das Spiel ist aus, aus, aus“) 1954 den Bundestrainer Sepp Herberger besuchte, der als junger Mann Kanonier bei der Bundeswehr und mal schwer angetan war von den Segnungen der Atomkraft. Der Romantiker war und 1967, als andere die freie Liebe für sich entdeckten, mit seiner Frau nach Paris fuhr, um mit zwei zufälligen Trauzeugen in Notre Dame zu heiraten.
Sozialdemokrat wollte er sein in Willy Brandts Zeiten, bis die SPD ihn hinauswarf, weil er den RAF-Chef Andreas Baader „Genosse“ nannte. Als Verteidiger der RAF-Terroristen stand er selber im Visier der Staatsanwaltschaft, wurde ausgeschlossen wegen „Missbrauchs der Verteidigertätigkeit“, wurde verhaftet und wegen „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.
Realpolitiker, das hört er nicht gerne, aber deutsche Realität hat er verändert. Ströbele ist einer der Mitgründer der „taz“, was nachhaltig die deutsche Presselandschaft veränderte. Der Anwalt war dort in den Anfangsjahren einer der wenigen, die den vermüllten Konferenzraum säuberten und nahezu väterlich den weitgehend unbezahlt arbeitenden Redakteuren belegte Brote in die Redaktion brachten. Und er kämpfte erfolgreich für die von ihm ausgemachte „Jahrhundertchance“, als es galt, 1989 auf einem Bundesparteitag die zaudernden Parteifreunde von einer rot-grünen Koalition in Berlin zu überzeugen.
Ein König mit Widersprüchen und Niederlagen
Der Mitgründer der Grünen, der seine Partei ausgiebig genervt hat, ist einer, der hartnäckig sein kann und präsent bis zum Äußersten. Wie beim Untersuchungsausschuss um illegale Parteispenden für Helmut Kohl. Oder wie gegenwärtig als Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses. Er ist unnachgiebig bis ins Detail, wenn er etwas nicht korrekt findet. So hat er gerade ein Urteil erstritten gegen einen Milchkonzern, der mit der Marke Brandenburg wirbt, aber Milch aus Nordrhein-Westfalen abfüllt.
Wo Ströbele ist, da ist urgrünes basisdemokratisches Kernland, mit allen emotionalen Gefühlsschwängen und selbstgestrickten Absolutheitsansprüchen. Joschka Fischer hat das zu spüren bekommen, als machtkompromisslicher Oberrealo und Außenminister. Ströbele hat 2002 gegen ihn Wahlkampf gemacht mit dem Slogan: „Ströbele wählen heißt Fischer quälen.“ Er hat auch dafür gesorgt, dass die grünen Parteivorsitzenden bis heute kein Bundestagsmandat haben dürfen – damals zum Leidwesen von Claudia Roth.
Er ist auch ein König mit Widersprüchen und Niederlagen. Und Fehlern. Manche haben ihn körperlich geschmerzt,sagt er, weil er es sich selbst verboten hat, sie als politische Niederlagen abzutun, sondern sie anerkannt hat als seine persönlichen Fehler. Etwa als er Anfang 1992 als damaliger Parteivorsitzender der Grünen im Golfkrieg davon sprach, dass die irakischen Raketen auf Jerusalem die „zwingende Konsequenz der israelischen Politik“ seien. Er hätte ahnen müssen, welche Sprengwirkung dies in der aufgeheizten Atmosphäre haben könnte. Und er hat gelitten, als er in Gerhard Schröders rot-grüner Koalition 2001 gegen einen Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan stimmte.
Um sich treu zu bleiben, riskierte er den Bruch der Koalition. Er blieb hart, andere Einsatzgegner der Grünen retteten mit ihren Ja die wegen ihrer knappen Mehrheit auf jede Stimme angewiesene Koalition. Es gehört zu seinen Widersprüchen, dass der Kriegsgegner einst die mittelamerikanischen Guerilleros mit der Kampagne „Waffen für El Salvador“ unterstützte und persönlich die Spendengelder überbrachte.
Auf eine gewisse Weise ist Ströbele ein Abhängiger. Nicht von herkömmlichen Drogen. Nikotin, Alkohol und illegale Drogen hat er zeitlebens gemieden. Auch wenn sein Spruch „Gebt das Hanf frei“ von Stefan Raab zum Hit gemacht wurde, hat er Cannabis nie ausprobiert. Seine Droge ist die Politik. Deswegen war es ein Schock für ihn, als seine Partei 2002 ihm einen Listenplatz für den Bundestag verweigerte. Ein aussichtsloses Unterfangen schien es, den damals von der Linkspartei dominierten Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg direkt zu erobern. Ein Akt des politischen Trotzes, der ein Triumph wurde, 2005. Und 2009 abermals.
Und nun? Auf seinem bunten Wahlplakat, wo es von Multikulti und dem Kampf gegen Gentrifizierung, NSA und teure Mieten wimmelt, reißt Ströbele einen Zaun nieder. Da geht es „zum Garten der Hoffnung“, erläutert ein aufgekratzter Kandidat in seinem etwas zugerümpelten Wahlkreisbüro im Schlagschatten jenes Inbegriffs der brutalen Stadtzerstörung, dem monströsen Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor.
Als Hans-Christian Ströbele 1985 zum ersten Mal in den Bundestag einzog, damals als Nachrücker, damals noch auf zwei Jahre begrenzt, damals noch in Bonn, hatte er beim politischen Happening vor dem Plenarsaal einen Esel dabei. Das dumme Tier bockte und wollte nicht vorwärts. Obwohl: Esel sind nicht dumm, nur sehr stur und lassen sich nie vom Kurs abbringen. Man kann es auch zielstrebig nennen. So wie Ströbele.
Erschienen auf der Reportage-Seite.
Gerd Nowakowski