Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Grunewald: Wo die Sphinxen überborden
96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 30: Grunewald.
Ich habe Grunewald mit den Augen eines Verzweifelten gesehen, mit den Augen eines Kaisers, eines Hipsters und eines Bekehrten. Aber der Reihe nach.
Am Anfang war Grunewald wüst und leer. Man schrieb das Jahr 1157, Berlin gab es noch nicht, auch keine Ortsteile, nur einen Wald am Havelufer. Von der anderen Flussseite (wo noch nicht Spandau lag) waberte im Juni jenes Jahres Kriegsgeschrei über den Fluss, dann trieb ein Mann, der Slawenfürst Jaczo, sein Pferd ins Wasser, auf der Flucht vor Albrecht dem Bären und seinem Heer.
Vergeblich rief der schwimmende Fürst seine heidnischen Slawengötter um Hilfe an – und schwor schließlich, den Glauben seiner Verfolger anzunehmen, falls deren Gott ihn retten sollte. Als er glücklich das andere Ufer erreichte, hängte Jaczo seinen Schild an eine Eiche und lebte fortan als Christ.
Der kolossale Backenbart
Albrecht der Bär wiederum gründete nach seinem Sieg über die Slawen die Mark Brandenburg, wo sieben Jahrhunderte später der romantische Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. ein Denkmal für Fürst Jaczo aufstellen ließ, eine steinerne Eiche mit steinernem Schild. Es ziert bis heute einen Hügel am östlichen Havelufer, und als ich davor stand, sah ich Grunewald mit den Augen eines Bekehrten.
Noch einmal ein halbes Jahrhundert später starb Wilhelm I., der jüngere Bruder des Jaczo-Verehrers und Kaiser des nunmehr geeinten Deutschlands. Zu seinen Ehren wurde 1899 am Havelufer südlich der Steineiche der Grunewaldturm erbaut, ein gotisches Backsteingetüm, in dessen Eingangshalle ein Marmor-Wilhelm mit kolossalem Backenbart steht.
Ein Kellner des Turmrestaurants schloss mir die Tür zur Wendeltreppe auf. Ich erklomm die 204 Stufen bis zur Aussichtsplattform, ließ den Blick über die Bäume schweifen und sah Grunewald mit den Augen eines Kaisers.
Finanziell verhoben, im Turm erhängt
Kurz nach Wilhelms Tod wurde am westlichen Ende des Kudamms die „Millionärskolonie Grunewald“ angelegt, Berlins prächtigstes Villenviertel. Nobler als hier kann man in dieser Stadt bis heute nicht wohnen. Lange lief ich staunend zwischen den überbordenden Steinfassaden mit ihren Greifen und Sphinxen, Drachen und Schlangen, Löwen und Putten umher, bis ich schließlich am Herthasee die selbst für hiesige Verhältnisse überkandidelte Villa Walther erreichte.
Ihr Erstbewohner, der Architekt und Baurat Wilhelm Walther, soll sich mit diesem Prestigeprojekt finanziell derart übernommen haben, dass er sich kurz nach dem Einzug in einem Turmzimmer erhängte. Er dürfte nicht der einzige Bewohner dieses Ortsteils gewesen sein, den der Drang nach Repräsentation ruinierte. Ich versuchte, mir die grausige Turmzimmerszene vorzustellen, und sah Grunewald mit den Augen eines Verzweifelten.
Graffiti und Kalter Krieg
Wieder ein halbes Jahrhundert später wurden im Wald die Trümmer von zwei Weltkriegen zum Teufelsberg aufgeschüttet, auf dessen Gipfel die US-Armee eine gigantische Abhöranlage errichtete. Zwischen den pittoresk verfallenen Kuppeltürmen laufen heute junge Hobbyfotografen aus aller Welt herum, weil man nur hier Berlin-Selfies schießen kann, auf denen Graffiti UND Ruinen UND die Havel UND der Sonnenuntergang UND der Kalte Krieg drauf sind. Ich zückte mein Handy und sah Grunewald mit den Augen eines Hipsters.
Fläche: 22,3 km² (Platz 4 von 96)
Einwohner: 10 530 (Platz 77 von 96)
Durchschnittsalter: 49,7 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Jaczo (Slawenfürst), Klaus-Rüdiger Landowsky (Bankenfürst)
Gefühlte Mitte: Herthasee
Diese Kolumne erschien am 30. September 2017 in unserer Samstag-Beilage Mehr Berlin. Alle Folgen lesen Sie hier.