Schulstart in Berlin: Grundschule will Lerngruppen aus Furcht vor Infektionen halbieren
Unterrichten ohne Mindestabstand? Eine Schöneberger Grundschule kann sich das nach der Urlaubszeit nicht vorstellen – und schreibt einen Brief an die Senatorin.
Wenn die Berliner Schulen am Montag wieder öffnen, bleibt folgendes Szenario nicht unwahrscheinlich: Schülerinnen und Schüler kehren aus Risikogebieten wie der Türkei, Serbien oder Spanien in den Unterricht zurück – allerdings ohne negatives aktuelles Corona-Testergebnis und ohne die 14-tägige Quarantäne nach der aktuellen Infektionsschutzverordnung einzuhalten.
Wie kann sich die Lehrkraft sicher sein, dass das Kind auch die Quarantänezeit eingehalten hat? Und wie soll sie sich verhalten, wenn sie ahnt, dass das Kind und die Eltern die Infektionsschutzverordnung missachten? Etliche Schulleiter stehen diesem Problem ratlos gegenüber.
Lehrerinnen und Lehrer der Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg haben deshalb einen Brief an Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) geschrieben, der dem Tagesspiegel vorliegt.
„Das Kollegium […] möchte seine große Sorge zum Ausdruck bringen, dass am 10. August der Regelunterricht in voller Klassenbesetzung beginnen soll“, heißt es darin. Durch die Reisemöglichkeiten in andere Länder sei die Zahl der Infektionen wieder deutlich gestiegen – „und damit auch das Risiko, den Virus in die Schulen zu tragen“.
Anders als die Senatorin sind die Lehrkräfte nicht bereit, auf den Mindestabstand im Unterricht zu verzichten. Das Robert-Koch-Institut empfehle weiterhin ausdrücklich einen Mindestabstand von 1,5 Metern, der in den Klassenräumen mit 25 Schülerinnen und Schülern „nicht zu gewährleisten“ sei.
Eltern und Kinder müssen Urlaubsziel nicht nennen
Stattdessen schlägt das Kollegium vor, in den kommenden zwei Wochen den Präsenzunterricht in der Berliner Schule in halben Gruppen durchzuführen, um die Inkubationszeit bei einer Corona-Infektion zu berücksichtigen.
„Wir sehen diese Regelung als eine sinnvolle Maßnahme an, um alle Kinder, Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen vor einer Ansteckung zu schützen und das Ausbreitungsgeschehen besser zu kontrollieren“, heißt es weiter im Brief der Grundschule. Darunter: 53 Unterschriften.
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Die Berliner Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt das Anliegen der Schule. „Wir können uns gut vorstellen, dass sich auch andere Schulen diesem Vorgehen anschließen, um mit der äußerst problematischen Situation umzugehen“, sagt Markus Hanisch, Sprecher der GEW Berlin.
Gewerkschaft befürchtet Misstrauen bei Lehrkräften
„Wir sind skeptisch, ob die Infos zur Testung und Quarantäne bei allen Familien angekommen ist.“ Schließlich habe die Senatsverwaltung die Informationen erst kurz vor den Ferien mitgeteilt. „Das Vorgehen könnte dazu führen, dass die Familien keine Angaben machen“, befürchtet Hanisch. Misstrauen auf Seiten der Lehrer seien die Folge.
Für Lehrkräfte sei es kaum möglich, Angaben zur Rückkehr zu prüfen, weil weder Eltern noch Kinder ihr Urlaubsziel nennen müssen. „Wenn eine Lehrerin sichere Kenntnis davon hat, dass eine Schüler*in aus einem Risikogebiet kommt und keinen negativen Test vorweisen kann, dann befürworten wir es, dass das Kind nach Hause geschickt wird.“
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Die Gewerkschaft stört sich außerdem an der Umsetzung der Maskenpflicht: „Nirgends ist geregelt, wer die nötigen Masken zur Verfügung stellt, oder was mit den Schüler*innen passiert, die ohne Maske erscheinen oder diese verlieren. Wer trägt die Verantwortung für Verstöße gegen die Hygienevorschriften und bei Infektionen – die Lehrerin oder die Senatorin?“
Einhalten der Quarantänezeit kann als Schwänzen gelten
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) betonte, es sei als Schwänzen zu werten, wenn die Kinder nicht zum Unterricht gehen, weil sie nach dem Urlaub noch in Quarantäne bleiben müssten. In einem Schreiben der Senatsverwaltung für Bildung an die Berliner Schulen hieß es demnach bereits Ende Juni: „Ist bei Unterrichtsbeginn die Quarantänezeit noch nicht abgelaufen und kann kein ärztliches Zeugnis vorgelegt werden, gilt das Fehlen im Unterricht als unentschuldigt.“
Die Familien hätten ihren Urlaub anders planen müssen, wenn das Kind auf diese Weise dem Schulunterricht fernbleiben muss, sagte die Senatorin. „Das stimmt, ist aber realitätsfern“, erwiderte eine Berliner Schulleiterin im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Auch sie befürchtet weiterhin, dass viele Kinder am Montag in den Klassenräumen sitzen werden, die ein großes Infektionsrisiko aus den Risikogebieten mitbringen, also weder einen negativen Corona-Test vorlegen können, noch die Quarantänezeit eingehalten haben.
Musterhygieneplan ohne Hinweis auf rückkehrende Kinder aus Risikogebieten
Wenn die Lehrer die Kinder wie nach jedem Ferienende danach fragen, wie sie die freien Tage verbracht haben, würden jüngere Schüler ganz arglos davon erzählen, in den betreffenden Risikoländern im Urlaub gewesen zu sein, glaubt die Schulleiterin. Sie hat ihre Kollegen gebeten, aus Risikogebieten zurückgekehrte Kinder bei ihr zu melden, damit sie Kontakt mit den Eltern aufnehmen kann.
„Die Kinder sollen einen Corona-Test machen oder in Quarantäne gehen“, ist sich die Schulleiterin sicher. Entgegen der Anweisung der Senatsverwaltung wird sie ein solches Fernbleiben vom Unterricht nicht als „Schwänzen“ werten. Außerdem weist die Schulleiterin darauf hin, dass ein zweiter Test wenige Tage später wegen der Inkubationszeit wichtig sei.
Im Musterhygieneplan für Berliner Schulen thematisiert die Bildungssenatsverwaltung nicht, wie mit aus Risikogebieten zurückgekehrten Kindern umzugehen ist.
Vorschlag der Grundschule kommt kurz vor Unterrichtsbeginn
Astrid-Sabine Busse ist Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen und kommentierte den Vorschlag der Werbellinsee-Grundschule mit den Worten: „Der Unterricht beginnt ja bereits am Montag – da können wir nicht über Nacht beschließen, die Lerngruppen in den Schulen zu halbieren.“
Busse verweist auf den langen Vorlauf für solche Maßnahmen und auf die strengen Vorgaben, die der Musterhygieneplan der Bildungssenatsverwaltung vorsieht: Zum Beispiel die versetzten Pausenzeiten der Schülerinnen und Schüler oder der Mindestabstand in der Mensa.
„Wenn ein Kind aus einem Risikogebiet zurückkehrt und weder einen negativen Corona-Test vorweisen kann, noch die Quarantänezeit eingehalten hat, müssen wir die Eltern kontaktieren und das Kind abholen lassen oder nach Hause bringen. In so einem Fall müssen wir sofort handeln.“
2000 Reiserückkehrende aus Risikogebieten kommen täglich nach Berlin
Ob eine solche Abwesenheit vom Unterricht als entschuldigt oder unentschuldigt gilt, sei erstmal zweitrangig. Busse, die selber Leiterin einer Neuköllner Grundschule ist, rechnet bezüglich der zurückgekehrten Kinder bald mit entsprechenden Anweisungen von der Bildungssenatsverwaltung.
Die Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg (FBB) geht davon aus, dass an den beiden Flughäfen Tegel und Schöneberg täglich 2000 Passagiere aus den 130 Corona-Risikogebieten nach Berlin reisen. Nach Zahlen der Charité wurde bisher bei knapp ein Prozent der getesteten und zurückgekehrten Personen eine Infektion nachgewiesen.