Brauseboys erzählen 'Geschichten aus der Müllerstraße': Grinsen verboten
Ob Gott oder Allah, Schultheiss oder Jägermeister: Die absurd komischen Alltagsgeschichten der Weddinger "Brauseboys" haben seit 2003 ein treues Publikum bei einer der traditionsreichsten Lesebühnen der Stadt. Eine Auswahl der Texte ist nun als Buch erschienen. Funktioniert das?
Auch wenn ihre ganz große Boomzeit schon ein paar Jahre zurückliegt, sind sie immer noch ein bedeutender Teil der Kulturszene dieser Stadt: die Lesebühnen. Ob Surfpoeten, LSD oder Chaussee der Enthusiasten – sie lesen und lesen und lesen, und das oft seit Jahr und Tag. Und die Leute kommen. Die Weddinger Brauseboys, im „La Luz“ in den Osram-Höfen beheimatet, feierten im März bereits ihr zehnjähriges Bühnenjubiläum und haben ein halbes Jahr später eine thematische Sammlung einiger ihrer Texte herausgegeben.
„Geschichten aus der Müllerstraße“, so lautet der lakonische Titel, und damit ist im Grunde auch der Rahmen schon gesetzt. Kurze, pointierte Storys aus dem Alltag werden geboten, die die Autoren entlang der Hauptverkehrsstraße des Wedding erzählen, von Süd nach Nord, ohne sich dabei jedoch örtlich oder thematisch zu sehr einengen zu lassen.
Stellt sich die Frage: Texte, die dezidiert für den mündlichen Vortrag vor Publikum geschrieben sind, in Buchform – geht das überhaupt? Also: Funktioniert das? Klare Antwort: Wenn sie gut sind, dann ja.
Sätze, bei denen man laut auflacht
Die Geschichten der Brauseboys in diesem 144 Seiten schmalen Büchlein, das sei vorweggenommen, sind meistenteils gut bis sehr gut. Die Autoren entwickeln einen beiläufig-komischen Sound, bei dem die Selbstironie aber dankenswerterweise nicht auf die Spitze getrieben wird, bei dem die Wedding-Klischees (Dreck, Hunde, Asoziale, etc.) zwar bewusst bedient, aber immer wieder auch aufgebrochen werden, schon alleine deswegen, weil sie von überzeugten Weddingern verfasst worden sind.
Geografisch sortiert von Süd nach Nord, fangen sie eine Stimmung ein: die Stimmung des Alltags. Der mag verregnet sein, grau, chaotisch, laut, nervenaufreibend, aber in den seltensten Fällen langweilig (wäre ja auch langweilig) und natürlich auch nicht ansatzweise politisch korrekt. Wir sind ja, wie angesprochen, im Wedding. „Auf dem Müllerstraßenfest laufen alle Menschen so herum, wie Gott oder Allah, Schultheiss oder Jägermeister, die Arbeitslosigkeit oder der prügelnde Ehemann sie zugerichtet haben.“ Das Buch ist durchzogen von solchen Sätzen, bei denen man selbst dann laut auflacht, wenn man alleine daheim auf dem Sofa liegt.
Auch wenn man seinen Lebensmittelpunkt nicht entlang der Müllerstraße hat, findet man sich als Berliner in den feinen Beobachtungen wieder, etwa wenn sich Hinark Husen seine seltsam gute Morgenlaune bloß nicht allzu sehr anmerken lassen will, „sonst fühlen sich die Leute angegrinst, und das mag man hier gar nicht“.
„Ob Se könn', weeß ick nich...“
Der Wedding ist hier pars pro toto für das kodderschnäuzige Berlin, wie in Paul Bokowskis „Bankgeflüster“, einem wunderbaren Dialog mit der Sparkassen-Belegschaft, die partout keine Einzahlung akzeptieren will und dabei klassische preußische Bonmots wie dieses in Erinnerung ruft: „Ob Se könn', weeß ick nich, aber Se könn's jerne ma vasuchen.“
Statt auf dem Allgemeinplatz zu verharren, bedienen sich die Brauseboys am bunten Kiosk der Durchgeknalltheit, entwickeln wunderbar skurrile Thesen: etwa dass Erste-Mai-Märsche die wahren Vorboten der Gentrifizierung sind; dass die ewige Baustelle vor dem S-Bahnhof Wedding sicher schon unter Denkmalschutz steht; oder dass die Exotik einer Chile-Reise in Wahrheit schon bei der Beantragung des Internationalen Führerscheins im Bürgeramt Wedding beginnt.
Auch scheinbar winzige Begebenheiten geben mitunter eine mehrseitige, unterhaltsame Schnurre her, wenn sie nur richtig entwickelt werden, so wie das Missverständnis vor dem Shoppingcenter, bei dem sich der vermeintliche Obdachlose als Kaiser's-Verkäufer herausstellt und sein Spendenbecher als halbvoller Pausenkaffee.
Und dann, zu Beginn des letzten Buchdrittels, liest man plötzlich Volker Surmanns Bericht von einer nächtlichen Begegnung mit drei Halbstarken im U-Bahnhof Seestraße, eine Eskalation einer eigentlich harmlosen Pöbelei, die einem das Lachen wieder den Hals runterschickt und den Puls hoch. Ist eben doch nicht alles witzig hier. Bitte nicht vergessen. Danke.
Oder in den Worten von Frank Sorge, der über den Leopoldplatz schreibt: „Es ist nicht schön hier, aber es darf auch nicht alles schön sein, wenn nicht alles schön ist.“
Brauseboys: Geschichten aus der Müllerstraße (be.bra, 144 S., 9,95 EUR)
Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.
Dem Autor Johannes Ehrmann auf Twitter folgen: @johehr
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