Berlin: Gras über Lenin
In unserer Serie "pOSThum" erinnern wir an Ereignisse und an Menschen, an Häuser und Dinge aus der DDR von einst. Eine historische Revue mit Geschichten, die für viele damals der ganz normale Alltag waren.
In unserer Serie "pOSThum" erinnern wir an Ereignisse und an Menschen, an Häuser und Dinge aus der DDR von einst. Eine historische Revue mit Geschichten, die für viele damals der ganz normale Alltag waren.
Ach, Lenin, wie du da so hingst: Dein Foto damals hat die Stadt geteilt und die Meinungen gespalten. Der gewaltige Schädel des übergroßen Wladimir Iljitsch mit zwei Haken im Hirn, freischwebend am Kran vor der Kulisse der Häuser des Platzes, der seinen Namen trug. Der allmächtige Lenin, der die DDR-Menschen wie ein Übervater vom Nachttopf bis ins Altersheim begleitet hatte, der große Theoretiker und Dichter gewaltiger, wenn auch schwer verständlicher Prosawerke, der Revolutionär, der da rührte an den Schlaf der Welt - dieser Supermann hing nun im grauen Novembernebel, ausgerechnet im Monat seiner Oktoberrevolution, an einem Kran, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden - Do swidanja, Towarischtsch!
Die einen frohlockten, denn das Bild zeigte, wer sich als Sieger der Geschichte fühlen konnte. Die anderen ballten vor Wut die Faust und versprachen bittere Rache für den Verlust ihrer Identität. Vor genau zehn Jahren tobte am Beispiel des kopflosen Lenin ein heftiger Streit um den Umgang mit der jüngsten Geschichte. Der 19 Meter hohe Koloss aus rotem ukrainischen Granit war am 19. April 1970 im Beisein von 200 000 Menschen, dem Festredner Walter Ulbricht und dem Schöpfer Nikolai Tomski enthüllt worden.
Was tun? Schto djelatch? Sollte Verpackungskünstler Christo tätig werden? Könnte nicht heftig wachsendes Efeu den roten Körper verfremden und zeigen, dass da was ist, wo nichts mehr ist? Christoph Stölzl wollte den steinernen Gast ins Zeughaus-Museum holen. Rainer Kirsch, der Dichter, meinte, der versteinerte Oberlehrer "unterrichtet künftige Generationen unaufwendig über die Hässlichkeiten einer Epoche", weshalb er bleiben sollte, wo er ist. Die Leninisten der "Jungen Welt" wollten den Komtur in ihrem Vorgarten aufstellen; CDU-Mann Volker Liepelt riet, dass auch das Thälmann-, Marx-Engels- und Betriebskampfgruppendenkmal "zügig abgerissen" und in einem Park als "Panoptikum realsozialistischer Verirrungen" ausgestellt werden sollte. Hm, o Gott! Ein Leser machte den nicht unraffinierten Vorschlag, an der Statue eine Tafel anzubringen des Inhalts, dass die deutsche Oberste Heeresleitung im April 1917 dem russischen Revolutionär die Reise durch das Reich nach Russland ermöglichte: "Das Ergebnis dieser Erlaubnis war die Oktoberrevolution mit ihren Folgen". Dann kam die Idee auf, nur den Rumpf stehen zu lassen und alle vier Wochen mit einem von einem Bildhauer geformten Kopf als "Berliner des Monats" zu bestücken. Senatoren, Investoren, Fußball-Gladiatoren, Moderatoren, Kommentatoren, Direktoren und bedeutende Senioren kämen in Betracht. Das Schärfste damals war, dass Lenins 125 Einzelteile nummeriert wurden - für eine eventuelle Wiederaufstellung. Da kaum jemand dieses Trostpflaster ernst nehmen konnte, wurde die Mär nachgeschoben, dass die Granit-Steine zum Künstlerhof Buch kämen, wo sie auf ihre Auferstehung im Jahre 3048 oder so warten sollten. Künstlerhof klingt gut. In Wahrheit führt uns die Spur der roten Steine in die Müggelheimer Revierförsterei zum Köpenicker Forst, wo eine Kiesgrube zur Leninistischen Endlagerstätte auserkoren wurde. Zwei Meter hoch und vierzig Meter lang ist der Hügel auf dem das Gras über Lenin wächst - einem Mann, der nicht mehr uns gehört, wie er nie zu uns gehört hat. Doch der Forstamtsleiter, der an dem Grab in den Seddinbergen nach dem Rechten sieht, heißt Marx, Karl-Heinz Marx. Wenigstens das.
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