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Auf dem Sockel. Dieses Foto entstand wenige Monate vor dem Abriss des Bronze-Stalins. Von ihm blieb nichts mehr übrig – bis auf ein Ohr (siehe Foto unten) und ein Teil des Bartes.
© picture alliance / ZB

Und weg war er: Goodbye, Stalin

Vor 50 Jahren verschwand das 4,60 Meter hohe und zweieinhalb Bronzetonnen schwere Stalin-Denkmal über Nacht aus dem Ost-Berliner Straßenbild.

Das Ohr spielte einst im sozialistischen Alltag eine besondere Rolle. Jeder Funktionär sollte tunlichst das Ohr an der Masse haben. Große Ohren gehörten zur Grundausstattung der Mitarbeiter der Firma Horch und Guck, oftmals hatten auch die Wände Ohren, Agitation ging oft ganz schnell ins eine Ohr rein und durchs andere wieder raus, doch Volkes Vernunft stieß auf die tauben Ohren der Oberen. Der Alleralleroberste hatte einst besonders große Muscheln am Kopf, damit er alles hörte, was um ihn herum geschah, vor allem die Lobpreisungen. Es handelt sich um die Ohren von Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, dem von der Geschichte voll in die Tonne getretenen Diktator Josef Stalin. Ihm flogen einst im deutschen Osten göttergleiche Huldigungen um die Ohren. Eins der beiden Stalin-Ohren, vielleicht 20 Zentimeter lang, liegt jetzt in einem Schrein im hübschen Café Sibylle in der Karl-Marx- Allee 72 und ist Teil einer Ausstellung über die 60-jährige Geschichte des Boulevards. Darin beschreibt der Baubrigadier Gerhard Wolf, wie er einst Stalins Ohr und ein Stück Bart heimlich in seine Tasche gesteckt und entführt hat, damals, am 14. November 1961, früh um Sechs, nach einer anstrengenden verregneten Nacht.

Am Abend zuvor war Gerhard Wolf gegen 22 Uhr aus dem Kino gekommen und zu Hause mit der Botschaft empfangen worden, flugs zum Stalin-Denkmal in der Stalinallee zu eilen. Knurrend schwingt er sich auf seinen Motorroller. Stalin ist weiträumig abgesperrt. Wolf darf passieren, „weil dort meine Brigade arbeitet“, und ein Kollege sagt: „Gerd, wir sollen Stalin umpusten, weeß bloß keener, wie.“ Gerd weiß, wie er diesen merkwürdigen, gut bewachten Parteiauftrag erfüllen kann. Er besorgt eine Planierraupe samt Räumschild, gibt Gas, und nach drei, vier Stößen stürzt der einst so heilige Koloss vom Sockel.

Seine Geschichte: Zu Stalins 70. Geburtstag am 21. Dezember 1949 war die Frankfurter Allee in Stalinallee umbenannt worden. Am 3. August 1951 wurde das größte Stalin-Denkmal auf deutschem Boden enthüllt. Es war 4,60 Meter hoch, zweieinhalb Bronzetonnen schwer. Der dabei von Walter Ulbricht so gepriesene „größte Mensch unserer Epoche“ blickte fortan von seinem Sockel über die kleinen Menschen zu seinen Füßen und direkt auf eine (heute längst abgerissene) Sporthalle gegenüber. Nach Stalins Tod im März 1953 zogen trauernde Werktätige an dem Bronzemann vorüber. Die spätere Abrechnung Chrustschows mit Stalins Verbrechen überstand J. W. S. unbehelligt auf seinem Sockel. Bis zu jener regnerischen Nacht vom 13. zum 14. November 1961. Wenigstens äußerlich sollten Zeichen einer „Entstalinisierung“ gesetzt werden.

Um Mitternacht bringt ein Tieflader den gestürzten Stalin in eine Halle der „Deutschen Bau-Union“. Ein Offizier der Staatssicherheit erklärt Gerhard Wolf und seiner Brigade, was jetzt passiert: „Das Denkmal ist bis zur Unkenntlichkeit zu zerkleinern. Die Mitnahme von Bruchstücken ist verboten, über die Angelegenheit wird nicht geredet!“ Pressluftmeißel zerkleinern die Statue, unter ohrenbetäubendem Lärm zerfällt die Figur in kleine Bronzeteile. Während die Männer der Brigade Wolf den Generalissimus zerlegen, werden die Straßenschilder der Stalinallee abgeschraubt. Vom Alex bis zum Frankfurter Tor heißt die Straße nun Karl-Marx-Allee, Richtung Osten bis nach Lichtenberg ist es wieder die Frankfurter Allee. So heißt nun auch der S- und U-Bahnhof, und beim „VEB Elektroapparatewerke J. W. Stalin“ wird Stalin durch „Berlin-Treptow“ ersetzt.

Das erfährt der verwunderte Zeitungsleser am 14. November durch eine dürre „Mitteilung des Magistrats von Groß-Berlin“. Was niemand erfährt, erzählt später Brigadier Wolf: Irgendeiner griff als erster nach einem Bronzestück. Ich bearbeitete gerade noch den riesigen Kopf. Schnell und sicher sind Ohr und Bartstück abgetrennt, verschwinden in den Taschen des Blaumanns, werden im Morgengrauen an den schläfrigen Sicherheitsnadeln vorbeigeschmuggelt und als Souvenirs aufbewahrt. 1998 stirbt Gerhard Wolf, sein Souvenir, Stalins Ohr, liegt jetzt mit dem Barte des Propheten im Café Sibylle.

Genau 30 Jahre später wurde dann noch einmal ein Sowjetführer gestürzt: Am 13. November 1991 verlor das riesige Lenin-Denkmal am heutigen Platz der Vereinten Nationen seinen Kopf. Im Roten Rathaus saß damals Eberhard Diepgen (CDU), der an diesem Tag seinen 50. Geburtstag feierte, was die Lenin- Fans wild spekulieren ließ. Fast ein Vierteljahr dauerte es dann, bis das Denkmal abgetragen war. Die 129 Einzelteile aus rotem Granit ließ der Senat irgendwo an den Müggelbergen verbuddeln. Wiederverwertung offen. Die Stalin-Bronze kehrte jedoch zurück – als Material für Plastiken im Tierpark Friedrichsfelde.

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