Tagesspiegel-Spendenaktion: Gesundes Essen für vernachlässigte Kinder
In einem Mehrgenerationenhaus in Kreuzberg werden nachmittags vernachlässigte Kinder betreut. Es gibt gesundes Essen und Nachhilfe in Sozialverhalten.
Sie klappern in ihrer Plastikbox, wenn man sie schüttelt, billig sind sie auch, viele Kinder mögen sie. Und sie stehen für die ganze Geschichte. Mit den Chinanudeln kann man das Elend erzählen, die Not der Kinder, den Grad ihrer Vernachlässigung.
Julia Lehmann sitzt in ihrem Büro, schüttelt eine imaginäre Plastikbox und redet von den Chinanudeln. Kinder brachten sie mit in die Wassertorstraße 48 in Kreuzberg, hungrige Kinder, die von der Grundschule nebenan kamen, denen die Eltern die Nudeln in den Schulranzen gesteckt hatten. Jetzt, im Mehrgenerationenhaus, rissen die Kinder die Plastikhülle von den Boxen und schluckten die Nudeln. Roh, sie nahmen sich nicht mal die Zeit, sie warm zu machen. So sah das Essen von Acht- bis Zwölfjährigen aus. Also beendete Julia Lehmann irgendwann diese erschütternden Szenen. Irgendwann sagte die Geschäftführerin des Vereins „Mehrgenerationenhaus Wassertorstraße 48“: „Ab sofort kommen keine Chinanudeln mehr ins Haus. Punkt.“
Stattdessen sitzen die Kinder jetzt vor Tellern mit Gemüse und Linsen, sie tauchen die Löffel in Suppen, und manchmal, na klar, spießen sie mit der Gabel auch Pommes auf. Es sind ja Kinder. Und zwar täglich 35 bis 40 von ihnen, zwischen sieben und 13 Jahren, die an den Tischen im Aufenthaltsraum sitzen, ein paar Meter von der Küchentheke entfernt. Jeden Dienstag und Donnerstag wird für diese Kinder gekocht, Ehrenamtler sorgen dafür, dass sie ausgewogen ernährt werden. „Die Kinder hätten eigentlich einen Bedarf für sieben Tage in der Woche“, sagt Thomas Brockwitz. Er sitzt neben Julia Lehmann, im Sozialbereich engagiert seit vielen Jahren. Er kennt die Situation rund um die Wassertorstraße 48.
Die Wassertorstraße liegt auf dem letzten Platz des Sozialrankings von Berlin
Eine Zahl genügt, um diese Situation darzustellen: 431, das ist die Zahl. Im Sozialranking von Berlin, jene Liste der Orte, in denen in Berlin soziale Verwahrlosung und Not herrscht, ist 432 der letzte Platz. Die Wassertorstraße liegt auf Platz 431. Schlimmer ist nur das Gebiet um den Moritzplatz, ein paar Straßen weiter. Hier leben Menschen, sagt Julia Lehmann, „die haben keine 20 Euro, um das Essen in der Schule zu bezahlen. Die kommen mit sich nicht klar.“ Oder, das gibt es auch, diese Eltern stecken diese 20 Euro in Handygebühren oder Tabak. In die Schultaschen ihrer Kinder stecken sie Chinanudeln.
An den Tagen, an denen es kein warmes Essen gibt, erhalten die Schüler Brote. Manchmal auch noch etwas Gemüse, das hängt davon ab, ob Gemüsehändler etwas spenden. „Wir möchten gerne die Verpflegung auf drei Tage, wenn möglich sogar auf vier Tage ausweiten“, sagt Julia Lehmann. Auch deshalb bittet der Verein um Spenden aus der Tagesspiegel-Aktion. Außerdem ist eine neue, größere Küche dringend nötig. Auch dafür soll das Geld verwendet werden. Das Mehrgenerationenhaus ist auch eine Begegnungsstätte für junge Menschen und Senioren. Die sitzen dann im Garten oder im Aufenthaltsraum, sie alle könnten die Küche benutzen. Die Küche ist zurzeit nur ein schmaler Schlauch. Wer hier arbeitet, ist eingepresst zwischen Herd, Spülmaschine, Arbeitsplatte auf der einen Seite und einer Theke, auf der jetzt eine Salatschüssel steht und ein Teller mit Zwiebelringen. Julia Lehmann zieht die Herdklappe runter, zur Demonstration der Lage. Jetzt ist kaum noch Platz für zwei Personen.
Sie hat Regeln eingeführt für Kinder, die in Familien ohne Regeln aufwachsen
Vor der Theke sitzt Enes an einem Tisch, ein Elfjähriger mit großen Augen, in denen ein misstrauischer Blick liegt. Es sind die frühen Zeichen eines anstrengenden Lebens. Aber Enes ist auch Teil des Erfolgs des Vereins. Denn Enes, der Elfjährige, sagt: „Ich mag Tomaten- und Linsensuppe.“ Und stolz erzählt er, dass er einen Stern aus Papier gebastelt hat, an einem der Nachmittage, an denen er hier ist. Der Stern hängt jetzt bei ihm zu Hause.
Die Kinder, die hier essen und betreut werden, erhalten zum gesunden Essen auch noch eine Zusatzausbildung in Sozialverhalten. „Es funktioniert“, sagt Julia Lehmann. Sie hat Regeln eingeführt für Kinder, die in einer familiären Welt ohne Regeln aufwachsen.
Die Kinder waschen sich zum Beispiel vor dem Essen die Hände. „Ach Gott“, sagt Julia Lehmann, „was gab es früher für ein Trara, wenn wir gesagt haben, sie sollen sich die Hände waschen.“ Jetzt hören Kinder, die neu in die Wassertorstraße kommen, von den Kindern, die schon länger da sind: „Ohne dass du dir die Hände gewaschen hast, brauchst du dich hier gar nicht hinsetzen.“ Betreuer wie Julia Lehmann und Thomas Brockwitz können sich zunehmend in die Rolle des Beobachters zurückziehen, der nur eingreift, wenn etwas wirklich schief läuft. „Die Kinder erziehen sich selber“, sagt die Geschäftsführerin. Sie hat noch gut die Tage vor Augen, in denen die Kinder ihren Schulranzen in die Ecke pfefferten. „Die Kinder kamen teilweise hochaggressiv. Sie waren mit so viel Energie aufgeladen, dass man es kaum ausgehalten hat.“
Die Kinder lernen schnell, weil sie die soziale Wärme im Haus genießen
Natürlich gibt es immer noch Kinder, die mit dieser Aggression kommen, neue Kinder, die noch nichts von den Regeln wissen. Kinder, die glauben, sie müssten verbissen um jeden Krümel auf ihrem Teller kämpfen, weil es in ihrem Alltag darum geht, überhaupt Nahrung zu erhalten. Aber diese Kinder werden schnell ruhig, es gibt genug zu essen. „Sie sehen, dass sie sich Zeit lassen können“, sagt Brockwitz. Und vor allem vernehmen sie Sätze, die sie noch nie gehört haben: Dass ein Kind sagt: „Darf ich dir etwas mitbringen?“, diese Frage tauchte in ihrem Leben vorher nicht auf. Doch sie lernen schnell, weil sie auch die soziale Wärme im Haus genießen. Enes ist seit drei Monaten hier, sein älterer Bruder hat ihn in die Wassertorstraße gebracht. Er hat von den netten Menschen erzählt und vom Essen.
Enes mag allerdings nicht bloß Suppe, und für Julia Lehmann ist das auch okay. Gut bürgerlich erzogene Kinder essen auch nicht bloß Gemüse und Obst. Und deshalb grinst sie nur, als Enes ein weiteres Lieblingsgericht aufzählt: „Döner.“
Spendenaktion Der Tagesspiegel e. V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse (BLZ 100 500 00), Konto 250 030 942; Namen und Anschrift für den Spendenbeleg notieren. BIC: BELADEBE, IBAN: DE43 1005 0000 0250 0309 42.