Der Wedding entdeckt die Lust am Tango: Gerichtstraße, Buenos Aires
Tango ist der Nationaltanz der Argentinier. Doch Berlin ist längst zur Tangohauptstadt Europas geworden. Und auch im Wedding gibt es immer mehr Begeisterte, die Woche für Woche zum Engtanz zusammenkommen. Unsere Autorin hat sich aufs Parkett begeben.
Samstagabend. Aus den Lautsprechern ertönt Musik, das Licht ist gedämmt, Paare strömen auf die Tanzfläche. Es wird gelacht, geflirtet, getanzt. Die Frauen tragen Röcke oder Kleider, die Männer Hemd und Hose. Ein Clubabend wie jeder andere in Berlin, oder? Nicht ganz.
Der Ort, an dem hier getanzt wird, ist nicht vergleichbar mit den miefigen Kellerräumen oder glitzernden Lounges der üblichen Locations. Schon der Weg dorthin ist anders: Statt Bierflaschen stehen Teelichter auf den Treppenstufen, die in den ersten Stock des ehemaligen Fabrikgebäudes in der Gerichtstraße 23 führen. Vom Treppenhaus aus gelangt man ins Tangoloft. Hier treffen sich an jedem Wochenende tangoverrückte Berliner und Touristen zum Tanzen.
„Der Raum ist wie geschaffen dafür“, schwärmt Lilia Keller, sie ist Tanzlehrerin im Tangoloft. Und tatsächlich, sobald man den 600 Quadratmeter großen Saal betritt, wähnt man sich in Buenos Aires, der Geburtsstadt des argentinischen Tangos. An den Wänden stehen alte Sofas und Sessel; auf den kleinen Tischen davor Kerzenständer und Lampen. Schwarz-Weiß-Fotografien in Goldrahmen schmücken die Wände, in der Saalmitte schließlich: ein großer Flügel unter einer orientalischen Hängelampe. Die einmalige Atmosphäre lockt rund 200 Tangobegeisterte jeden Samstag- und Sonntagabend zur Milonga, einer aus Argentinien stammenden Tanzveranstaltung. Unter der Woche geben Lilia Keller und ihr Tanzpartner hier Unterricht.
Tango zwischen Lampions und Beeten
„Ein Stück Kultur“ sei durch das Tangoloft entstanden, hier, im sonst oft noch tristen Wedding, sagt Lilia Keller. Besonders gefällt der 33-Jährigen die Altersmischung ihrer Tanzschülerinnen und -schüler. Vom jungen Studenten bis zum betagten Professor, sie alle kämen zum Tangotanzen in den Wedding. Berlin gilt mit bis zu sechs täglich stattfindenden Milongas sogar als Tangohauptstadt Europas. Tanzen als Sucht: „Wenn man einmal damit angefangen hat, hört man so schnell nicht wieder auf“, erklärt Lilia Keller und erzählt von den Anfängen ihrer Tangokarriere, als sie jeden Abend auf einer anderen Milonga getanzt hat.
Auch Hannah-Lisa Linsmaier hat die Tangosucht gepackt. Die Weddingerin ist Gründerin des Himmelbeets, eines Gemeinschaftsgartens direkt am Leopoldplatz. Zwischen Tomaten, Paprika und Pflücksalat wird auch hier, auf extra dafür ausgelegtem Holzboden, neuerdings Tango getanzt. Zur Milonga hängen bunte Lampions in den Baumwipfeln, in den Beeten stecken Fackeln und tauchen die Tanzpaare in ein warmes Licht.
Tanzlehrer ist Jens-Christian Ravn, Lilias Tanzpartner aus dem Tangoloft, bei dem auch Hannah-Lisa das Tangotanzen gelernt hat. "Und jetzt guckt ihr euch alle mal tief in die Augen und sagt Tango", fordert er die Paare auf. Gekicher bricht aus. "Die Körpernahe, die man beim Tango zu seinem Tanzpartner hat, ist für viele erstmal ungewohnt", sagen die Lehrer.
Doch es gibt immer mehr Begeisterte, die ihrer Berührungsängste überwunden haben. „Durch das Loft ist im Wedding ein richtiges Netzwerk entstanden“, sagt Lilia Keller, und auch Hannah-Lisa Linsmaier berichtet von der großen Unterstützung, die ihr die Weddinger bei der Gründung ihres Urban-Gardening-Projektes entgegengebracht haben. Seit Juni betreibt sie den Garten an der Ruheplatzstraße. Kleine Stückchen individuelles Grün inmitten der Betonwüste.
Ort der Entspannung für den Kiez
„Gärtnern ist ein verbindendes Element“, sagt Linsmaier, „dabei kommt es nicht auf das Alter, die Herkunft oder die Religion an.“ Sie erzählt von einer türkischen Familie, die oft im Himmelbeet picknickt und einer russischen alten Dame, die sich zwischen den Gemüsebeeten sonnt. Die Anwohner des Kiezes um den Leopoldplatz sind froh, einen Ort zur Entspannung zu haben, denn die wenigsten haben hier einen Balkon, geschweige denn einen Garten. Und der Gemeinschaftsgedanke soll nun eben auch über die Tanzveranstaltungen ausgebaut werden. Schon im September sollte die Milonga unter freiem Himmel einmal wöchentlich stattfinden, das schlechte Wetter machte dann aber alle bis auf einen Termin zunichte. Spätestens im Juni, wenn es wieder warm genug zum Tanz im Freien ist, soll es dann richtig losgehen.
Tangotanzen oder Gärtnern – Orte wie das Tangoloft und das Himmelbeet wollen die Weddinger zusammenbringen, egal, woher sie kommen. Hannah-Lisa Linsmaier bringt es auf den Punkt, als sie sagt: „Der Wedding hat viele Seiten. Man hört immer nur von den schlechten Sachen, dabei hat der Bezirk viel mehr zu bieten. Es gibt einige wunderschöne Orte.“
Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.
Nora Tschepe-Wiesinger
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