"Nacht der Solidarität": Freiwillige wollen Berliner Obdachlose zählen
Mehrere tausend ehrenamtliche Helfer haben sich schon gemeldet. Ende Januar sollen sie ermitteln, wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben.
Klettert man auf die Stahltreppe im Raum, hat man von oben einen ganz guten Blick auf Berlin, hier in dem Projektbüro der „Nacht der Solidarität“. Das Büro ist im sechsten Stock, direkt unterm Dach der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales in der Kreuzberger Oranienstraße.
Auf dem Teppich liegt eine riesige Berlin-Karte, abgedeckt mit Transparentpapier, auf dem einige Orte farblich umkringelt sind, U-Bahnhöfe, Parkplätze, Parks – Orte, an denen womöglich viele Obdachlose anzutreffen sein könnten. Hier tüftelt die Projektgruppe der Sozialverwaltung seit September, und viel Zeit ist nicht mehr.
In der Nacht vom 29. zum 30. Januar 2020 will sich Berlin als erste deutsche Stadt den Überblick darüber verschaffen, wie viele Menschen auf der Straße leben. Bisher weiß das niemand, Experten schätzen, dass es mehrere Tausend sind, die Zahlen variieren laut Sozialverwaltung allerdings zwischen 6000 und 10 000.
Noch bis zum heutigen Freitag sollen sich alle Berliner, die sich an der Zählung beteiligen wollen, registrieren. Der Nikolaustag ist zwar offizielles Fristende, um die Freiwilligen im Anschluss in Teams einzuteilen. Aber auch danach können sich vor allem für die nicht so gut besetzten Bezirke Reinickendorf, Spandau und Marzahn-Hellersdorf noch weiter Freiwillige melden.
Über 3000 Freiwillige haben sich bereits gemeldet
„Wir wissen nicht viel über die obdachlosen Menschen in unserer Stadt und auch nicht, wie es ihnen geht“, sagt Klaus-Peter Licht, Leiter des Projekts. Licht setzt große Hoffnungen in die Aktion. Er und seine vier Team-Mitglieder kommen aus unterschiedlichen Bereichen des Landesdienstes. Nun sitzen hier Stadtplaner, Sozialarbeiter und Verwaltungsexperten zusammen in dem Büro, das mit seinen weißen Backsteinwänden, an denen bunte Post-Its kleben, mehr nach Start-up aussieht als nach Verwaltung.
Klaus-Peter Licht hat sich beruflich schon viel mit Ehrenamtskoordination beschäftigt. Genau darauf kommt es in der „Nacht der Solidarität“ auch an. Denn gezählt werden die Obdachlosen von Berlinern selbst. Vorbild war Paris. Frankreichs Hauptstadt hat schon dreimal seine Obdachlosen durch Bürger zählen lassen – ist allerdings kleiner als Berlin.
„Es ist toll, auf wie viel Offenheit wir hier in der Stadt für dieses Projekt stoßen. Das geht über das, was wir uns erhofft hatten, hinaus“, sagt Alexander Fischer, Staatssekretär für Arbeit und Soziales. Er ist an diesem Dienstag in das Projektbüro gekommen, für ein Foto, auf dem er und das Team Schilder mit der Zahl „3000“ hochhalten. So viele Freiwillige hatten sich bis dahin gemeldet, inzwischen sind es 3247, stündlich würden es laut Senatsverwaltung mehr. Sie hoffen auf 4300 Freiwillige.
Schon lange hatten Wohlfahrtsverbände eine Zählung gefordert. Was schließlich mit den dann neu gewonnen Informationen passiert, ist noch nicht sicher. Klar ist die Idee, die dahinter steht: Die Menschen sollen dazu aufgefordert werden, sich für die eigene Stadt zu interessieren und einzusetzen. „Die Frage, die wir uns nach der Zählung stellen müssen, ist, was machen wir daraus?“, sagt Fischer. „Wie gewinnen wir die Menschen, die offenbar bereit sind, sich zu engagieren, auch dauerhaft?“
Wer nicht befragt werden will, wird nur gezählt
500 Teams sollen am Abend des 29. Januar zwischen 22 und 1 Uhr in blauer Weste mit Klemmbrett, Fragebogen und Stadtkarte ausschwärmen und die Straßen ihres zugeteilten Bereichs ablaufen. Mindestens drei, eher fünf Freiwillige pro Team. Immer begleitet von einen professionellen Teamleiter, der beispielsweise Straßensozialarbeiter ist. An schwierigen Hotspots, wie dem Kottbusser Tor oder der Rummelsburger Bucht, werden nur Profis zählen.
Die Ehrenamtlichen müssen zuvor einen Verhaltenskodex unterschreiben. Es darf niemand gestört oder geweckt, nicht an Zelten gerüttelt werden. Wer nicht befragt werden will, wird nur gezählt. Die Fragebögen sind auf verschiedenen Sprachen und mit Piktogrammen versehen, um Sprachhürden zu nehmen. Sie fragen das Geschlecht, das Alter, die Nationalität, die Dauer der Wohnungslosigkeit ab. Auch, ob es ein Haustier gibt, wird gefragt. In Zählbüros, die für den Abend in Stadtteil- und Nachbarschaftszentren eingerichtet werden, sollen Verwaltungsmitarbeiter nach der Zählung die Umfragezettel und Ergebnisse einsammeln.
Mitte Februar sollen die Zahlen vorliegen. „In Paris hatten sie überraschenderweise deutlich mehr Frauen auf der Straße angetroffen, als Fachleute vorher erwartet hatten, so dass sie dann ganz kurzfristig mehr Kältehilfeplätze für Frauen geschaffen haben“, erzählt Licht.
So könnte man auch in Berlin schnell auf Ergebnisse reagieren. Doch für ihn ist besonders eines entscheidend: „Dass es Ehrenamtliche sind, die die Zählung machen, ist das Besondere, das ist am Ende noch mehr wert, als die Zahl, die wir schließlich haben werden.“
Wer sich an der Zählung beteiligen möchte, kann sich hier anmelden: berlin.de/nacht-der-solidaritaet
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