Bilanz der Berliner Kältehilfe: "Frauen gehen nur im äußersten Notfall in die Unterkünfte"
1200 Plätze für Obdachlose standen letzten Winter zur Verfügung - mehr als noch vor wenigen Jahren. Eine Erfolgsmeldung? Für Experten eher ein Alarmzeichen.
Der Regenbogen zieht sich über eine ausladende Blumenwiese. Und zwischen den blühenden Blumen steht in leuchtend roter Farbe "Willkommen in Evas Obdach". Es ist die entscheidende Botschaft in diesem selbstgemalten Bild, das direkt im Eingangsbereich hängt, über den Sesseln mit den grau-beigen Polstern. Eine warme Begrüßung. Die älteste Frau, die dieses Bild gesehen hat, ist fast 90 Jahre alt. Und sie muss es als Art Geschenk betrachtet haben. Endlich konnte sie zur Ruhe kommen, endlich konnte sie den rauen Alltag kurz vergessen.
Denn jede Frau, die zu "Evas Obdach" hinter der Hedwig-Kathedrale kommt, ist obdachlos. 22 Frauen können hier übernachten, sie sind unter sich, kein Mann kommt zu ihnen. Es ist eine Notunterkunft nur für Frauen. Für viele Betroffene ist das die wichtigste Nachricht, sie sind geprägt von physischer oder psychischer männlicher Gewalt.
3798 Frauen haben 2018 in den Stockbetten von "Evas Obdach" geschlafen, aber 679 Frauen mussten die Mitarbeiterinnen abweisen. Sie erhielten Adressen von anderen Notunterkünften. Ob sie dort Unterschlupf gesucht haben, weiß niemand.
Diese 679 Frauen stehen für ein enormes Problem in Berlin. Obdachlose Frauen sind selten zu erkennen, aber sie sind da. 144 Plätze nur für Frauen hat die Berliner Kältehilfe in diesem Winter angeboten, doch die Auslastung lag nur bei 50 Prozent. "Frauen finden erstmal einen Schlafplatz bei Verwandten oder Freunden auf dem Sofa oder suchen Zuflucht und vermeintlichen Schutz bei Zweckbekanntschaften, die häufig mit Gegenleistungen verbunden sind", sagt Barbara Eschen, die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. "Die Kältehilfe suchen sie deshalb nur im äußersten Notfall auf."
Die Auslastung der Notunterkünfte lag bei 81,4 Prozent
Sie zieht Ende März Bilanz der Kältehilfe für den Winter 2018/19, zusammen mit Ulrike Kostka, die Direktorin des Caritasverbands für das Erzbistum Berlin-Brandenburg. Die Situation der Frauen spielt bei dieser Rückschau eine besondere Rolle. Fast 1200 Übernachtungsplätze bot die Kältehilfe an, das sind beträchtlich mehr als noch vor wenigen Jahren, da lag die Zahl noch zwischen 300 und 500. Die Auslastung der Notübernachtungen lag im Winter 2018/19 bei 81,4 Prozent. Und bis Ende April sind noch 500 Plätze verfügbar.
81,4 Prozent? Nicht mal 100 Prozent? Für Ulrike kostal ist das leicht zu erklären. "Es war ein überwiegend milder Winter. Wir hätten bei größeren Kälteeinbrüchen noch Reserven gehabt." Und 1200 Plätze sind zwar eine vergleichsweise beträchtliche Zahl, aber so richtig freuen kann sich die Caritasdirektorin darüber nicht. "Die Kältehilfe ist ein Seismograf für Entwicklungen in unserer Stadt und – im Wortsinne – ein Armutszeugnis. Sie zeigt, dass das Elend in den letzten Jahren gewachsen ist. Die dramatische Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt verschärft die Lage noch."
Allerdings verschärfen auch diverse Obdachlose die Situation. "Die Klientel wird schwieriger", sagt Kostka. "Die zunehmende Zahl von sucht-, psychisch und körperlich kranken Menschen" werde problematisch. "Bei einer solch brisanten Mischung an Menschen in Schlafräumen, die eigentlich keinen Platz für Rückzug und Privatsphäre bieten, sind Konflikte zwischen Gästen, aber auch zwischen Gästen und Personal keineswegs selten." Der Sicherheitsdienst gehöre inzwischen in immer mehr Einrichtungen zum Erscheinungsbild. Bei diesem Punkt "wird deutlich, dass das System Kältehilfe inzwischen ein Ausfallbürge für die Nichtversorgung besonders schwieriger Personengruppen ist".
Und Frauen trifft es besonders hart. Oft haben sie schon ein besonders schweres Schicksal hinter sich, wenn sie obdachlos werden. Viele haben sich von ihrem gewalttätigen Mann getrennt, waren aber in finanzieller und sozialer Abhängigkeit von ihm und stehen jetzt vor einer furchterregenden Situation.
"Frauen, die erkennbar wohnungslos auf der Straße leben, sind oft von psychischen Erkrankungen betroffen und brauchen weitergehende, intensive Hilfe", sagt Barbara Eschen von der Diakonie. "Ganztags und mit Betreuung in einem geschützten Rahmen". Aber sowohl für Barbara Eschen als auch für Ulrike Kostka geht es um grundsätzliche Hilfe. „Diese Menschen brauchen einen Einstieg in den Ausstieg“, sagt Barbara Eschen. Das gilt aus ihrer Sicht für alle Obdachlosen. Und eine nachhaltige Lösung könnten nur feste Wohnungen sein. Wie dieses Problem im überhitzten Berliner Wohnungsmarkt flächendeckend gelöst werden könnte, sagt sie aber nicht.
Skepsis gegenüber Zeltlagern für Obdachlose
Die Zeltlager, die als Idee der Sozial-Senatsverwaltung gerade diskutiert werden, sind eher keine Lösung. Ulrike Kostka ist beim Gedanken an diese Camps "nicht gerade begeistert". Sicher, das Projekt habe auch gute Aspekte. Die hygienische Situation würde sich erheblich verbessern. "Andererseits könnten diese Zeltcamps auch Anreize erzeugen." Und dann könnten plötzlich in der ganzen Stadt solche Zeltcamps stehen, ein Bild, das sich die Diakonie-Direktorin lieber nicht vorstellen mag. "Menschen gehören in Wohnungen oder feste Unterkünfte, nicht in Zelte." Außerdem, sie kennt ja Berlin, "wird hier oft aus einem Provisorium ein Dauerzustand".
Die Stadtmission hatte auch noch ihren Kältebus im Einsatz. Der legte mehr als 10 000 Kilometer zurück, um hilflose Obdachlose aufzusuchen. Die Mitarbeiter fanden die Menschen auf der Straße, in Parks, auf Friedhöfen, an allen möglichen Orten.
Die Stadtmission mit ihren vier Notübernachtungsmöglichkeiten hatte bis 24. März, insgesamt 43 147 Übernachtungen registriert. 23 Rollstuhlfahrer, darunter eine Frau und 15 Hunde wurden aufgenommen.
Einen Dauerzustand, was die Unterkunft betrifft, hätte dagegen "Evas Obdach" ganz gerne. Die Räume, die das Erzbistum zur Verfügung gestellt hat, sind gut. Aber das ganze Haus wird bald umgebaut, die Bagger rücken an, und dann ist auch für "Evas Obdach" hier Schluss.
Dass das Projekt an diesem Ort nur auf Zeit angelegt ist, wussten die Betreiber bei der Vertragsunterzeichnung. Im September muss die Notunterkunft ausziehen. Alles klar geregelt, nur ein Problem ist noch nicht gelöst: "Evas Obdach" hat noch keine neue Adresse gefunden.
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