zum Hauptinhalt
Nachdenken über Flucht und Vertreibung. Die Berlinerin Edith Kiesewetter-Giese, 79.
© Johannes Laubmeier

Flüchtlinge damals und heute: Frau Kiesewetters Liste

Überfüllte Boote vor Lampedusa, fehlende Unterkünfte, überforderte Behörden - fast jeden Tag werden wir mit dem Schicksal von Flüchtlingen konfrontiert. Was ist bei denen, die heute kommen, anders als bei denen, die vor 70 Jahren in Deutschland ankamen? Was ist ähnlich? Ansichten über Flucht und Vertreibung von einer, die vor 70 Jahren selbst eine Angekommene war.

Sinkende Boote im Mittelmeer, überfüllte Heime, überforderte Behörden – fast jeden Tag werden wir mit dem Schicksal der Flüchtlinge vor den und innerhalb der Grenzen Europas konfrontiert. Auch Edith Kiesewetter-Giese sieht sie. Die 79-Jährige war selbst einmal in der Situation, in einem fremden Land anzukommen und von vorne anfangen zu müssen. Mit zehn Jahren musste sie mit ihren Eltern die Stadt Neutitschein, die heute Nový Jičín heißt und in Tschechien liegt, verlassen. Sie kam, nur mit den Kleidern, die sie am Körper hatte, über Umwege nach Deutschland, wuchs in der DDR auf und lebt heute in Berlin. Die Erfahrungen der Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern bewegen sie. Die, die damals ankamen, sagt sie, sollten Fürsprecher sein für die, die heute kommen. Das sei eine Frage der Solidarität.

Wenn Edith Kiesewetter-Giese etwas bewegt, schreibt sie es auf. Vier Bücher über ihr Leben hat sie veröffentlicht, über die Vertreibung und ihr Leben in der DDR. Als sie wieder einmal einen Beitrag über syrische Flüchtlinge im Fernsehen sieht, setzt sie sich spontan hin und schreibt auf, in Stichpunkten, was sie sich darüber denkt. Was ist bei den heutigen Flüchtlingen anders als bei denen, die vor 70 Jahren in Deutschland ankamen? Was ist ähnlich? Ansichten über die heutige Flucht und Vertreibung von einer, die vor 70 Jahren selbst eine Angekommene war.

Die Gründe
Damals: Vertreibung zur ethnischen "Säuberung", Flucht vor Roter Armee.
Heute: Flucht aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, wegen Krieg.

Persönliche Folgen
Damals: Verlust des sozialen Umfelds, ohne Onkel, Tanten, Familienangehörige, da in aller Welt verstreut (Ost, West, Amerika, u.a.).
Heute: Verlust des sozialen Umfelds, z.B. Familie.

Frau Kiesewetters Liste. Gedanken zu Flucht und Vertreibung - damals und heute.
Frau Kiesewetters Liste. Gedanken zu Flucht und Vertreibung - damals und heute.
© Johannes Laubmeier

Die Angekommenen
Damals: Wir waren weiß und sprachen deutsch.
Heute: Oft andere Hautfarbe und der deutschen Sprache nicht mächtig.

Damals: Wir hatten den christlichen Glauben, aber: Evangelische Menschen kommen in katholische Gegenden und umgekehrt, was zu Problemen führte.
Heute: Im Jahr 2014 sind 61 Prozent der Deutschen nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung der Meinung, dass der Islam nicht kompatibel mit einem westlichen Land ist.

Damals: Die Traditionen und Werte der Eltern einerseits und die Realität in Deutschland andererseits, das stieß aufeinander. Die Kinder schämten sich oft und negierten ihre Herkunft.
Heute: Sie haben andere Traditionen, das wird oft als Bedrohung empfunden.

Damals: Es gab Unterschiede in der Bildung und dieses bestimmte die soziale Lage. Wir kamen auch aus einer anderen Kultur (z.B. Preußen, Habsburg).
Heute: Die Bildung der Flüchtlinge ist sehr unterschiedlich, wird zu wenig differenziert und anerkannt. Integration erfolgt zum Teil über Bildung - diese muss man organisieren und gestalten.

Damals: Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen hatten alles verloren, aber sie hatten ihren Kopf mitgebracht und den Willen, ein Leben wie zu Hause aufzubauen.
Heute: Das sollte man den heutigen Flüchtlingen auch gestatten, durch Ausbildung und Schulbildung.

Das Ankunftsland
Damals: Wir kamen in ein Land, das vom Zweiten Weltkrieg total zerstört war, es herrschte Chaos, Hunger, die öffentliche Ordnung musste neu aufgebaut werden – Verkehr, Wasser, Energie, Nahrung, Wohnraum u.a.
Heute: Sie kommen in ein reiches Europa, das bei der Unterbringung nicht mit einer Stimme spricht.

Damals: Unterbringung in Lagern; Läuse, Wanzen, Flöhe, unhygienische Bedingungen; Zwangseinweisung in Wohnungen. Trotz Lagern war Arbeit möglich. Aber es gab Ressentiments: Man beschimpfte sie ("Kakerlaken", "Sudetengauner", "Zigeuner", ...)
Heute: Bessere Unterkünfte, aber bekommen zunächst keine Arbeitsmöglichkeit, dadurch baut sich auch Aggression auf, was Integration erschwert. Sie werden in Gefängnisse gebracht, obwohl sie nichts verbrochen haben.
Heute: Sie sind als Ausländer oft nicht beliebt. Viele haben eine fremde Religion, den Islam. Durch die Medien werden Gräuel und Schrecken im Namen ihrer Religion gezeigt. Das verstärkt den Widerstand bei vielen Menschen.

Damals: In der BRD zahlten die, die im Krieg ihre Heimat nicht verloren hatten für die Flüchtlinge und Vertriebenen den Lastenausgleich. Große Solidarleistung.
Heute: Deutschland ist reich – deshalb sollte man den Flüchtlingen den Start geben, durch eigene Arbeit zum Wohl aller beizutragen.

Allgemeine Beobachtungen
Man will keine Parallelgesellschaft – aber man verhindert sie auch nicht!
Wirtschaftliche und politische Netzwerke verhindern oft vernünftige soziale und politische Lösungen. Humanität gerät dadurch in den Hintergrund.
Es wurde und wird bei allen Flüchtlingen und Vertriebenen zu wenig beachtet, dass die gesellschaftliche Prägung der Kindheit mitbestimmend ist.
Erfahrene Brutalität vergisst man nie!

Dokumentiert von Johannes Laubmeier.

Zur Startseite