Berlin: Förderung wegreformiert – Kinder landen in Psychiatrie
Berliner Kliniken müssen immer häufiger Problemschüler behandeln, weil spezielle Angebote an den Schulen weggefallen sind
Die vielen Berliner Schulreformen tun offenbar nicht allen Kindern gut. Insbesondere bei den Schulanfängern gibt es verstärkt Schwierigkeiten, da es für Erstklässler mit Lernbehinderungen oder Sprachdefiziten keine besonderen Klassen mehr gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass sie nicht mehr für ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt werden können und ein halbes Jahr früher schulpflichtig werden. Dies hat zu einer Ballung von Problemkindern geführt, die von den Lehrern nicht mehr aufgefangen werden können und sich verstärkt in der Psychiatrie wiederfinden.
Der Direktor der Vivantes-Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Oliver Bilke, hat sich deshalb mit einem Alarmbrief an die Senatsverwaltungen für Bildung und Gesundheit gewandt. Er schreibt, der Wegfall von Spezialklassen habe „zu der von Fachleuten befürchteten Psychiatrisierung von Schuleinstiegsproblemen geführt“. Es gebe „eine Anzahl von stationären (!) und ambulanten Fällen“, bei denen Erstklässler „vom jetzigen Schulangebot nicht aufgefangen werden können“. Die Folge sei, dass die Kliniken sogar Sonderschulen in Brandenburg suchen müssten, um Kindern zu helfen.
Viele ratlose Eltern wenden sich an Kinderärzte, wenn ihre Kinder im Schulalltag nicht mehr zurechtkommen. Deren Budget reiche aber nicht aus, um immer mehr aufwändige Therapien zu verschreiben, sagte Bilke gegenüber dem Tagesspiegel. So landeten viele Erstklässler in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten der Bezirke, die dann mitunter auch keinen anderen Rat wüssten, als die Kinder in die Kliniken zu schicken. „Wir sind die letzte Instanz“, sagt Bilke.
Inzwischen wurden die Bezirke von der Gesundheitsverwaltung um Stellungnahme gebeten. Zudem hat die Senatsverwaltung für Bildung mit Bilke gesprochen und ist jetzt auf der Suche nach Lösungen. Der zuständige Referatsleiter Peter Hübner bestreitet nicht, dass es zu gehäuften Problemen kommt. Solche Schwierigkeiten seien gemeldet worden. Die Lage soll aber dadurch entschärft werden, dass sich die Sonderpädagogen, die zwei Stunden pro Woche in den ersten Klassen sind, „gezielt um Risikokinder kümmern“. Dafür soll es auch eine spezielle Fortbildung geben. Die Sonderpädagogen sollen auch versuchen, in den Kitas mehr über die Vorgeschichte der Problemkinder zu erfahren. Darüber hinaus sei für das Gelingen der Schulanfangsphase „eine andere Lehrerhaltung“ notwendig, meint Hübner. Die Reform an sich wird von ihm nicht in Frage gestellt. Ziel sei es, dass Kinder nicht von Anfang an ausgesondert würden. „Nach einem Jahr zu sagen, dass alles verfehlt war, ist zu früh“, betont er.
Das meint auch die ehemalige Schulsenatorin der Grünen, Sybille Volkholz. Aber man müsse die Schulen angesichts der vielen Reformen besser unterstützen: „Nicht nur die Sonderpädagogen, sondern auch die Lehrer müssen fortbildet werden und zwar direkt an der Schulen“. Der CDU und FDP reicht das nicht. Sie stellen die Reformen an sich infrage. CDU-Schulexperte Gerhard Schmid plädiert dafür, die ersten Klassen an den Sonderschulen für Lernbehinderte zu erhalten und zudem Extraklassen für verhaltensauffällige Kinder einzurichten. Auch die FDP-Abgeordnete Mieke Senftleben hält die Abschaffung der Spezialklassen für einen Fehler. Wenn man aber alle Kinder integrieren wolle, müsse man wenigstens ständig einen Erzieher dabei haben.
Manche Schulleiter versuchen, sich selbst zu helfen: An der Spreewald- Grundschule etwa setzt Leiter Erhard Laube in allen ersten Klassen zusätzlich ABM-Kräfte ein, um die Lage zu entschärfen. Er fordert, dass Sonderpädagogen nicht nur zwei, sondern sechs Stunden pro Woche dabei sein müssten, um allen Risikokindern helfen zu können.
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