Zum 25. Todestag von Jörg Fauser: Fausers Nächte
„Die längsten Reisen fangen an, wenn es auf den Straßen dunkel wird“, schrieb Jörg Fauser. Vor 25 Jahren, am 17. Juli 1987, starb der Schriftsteller, der immer dahin ging, wo es fies, hart und schmutzig war. Eine Spurensuche in seinem Berliner Kiez.
Die Reise auf den Spuren Fausers beginnt am Mauerstreifen, an der Stelle, wo die Potsdamer Straße in den Potsdamer Platz übergeht. Wo früher eine Aussichtsplattform Richtung Osten stand, ist heute der Bahntower, da, wo der Schriftsteller, Kippe im Mund, am liebsten Blumen auf die Mauer geworfen hätte. Es ist ein Sommerabend im Juli, die Luft ist lau und ein Berliner mit weißem Hemd und Bartstoppeln in Witzlaune: „This is the famous Telespargel“, erklärt er den drei Japanern, die vor dem Tower stehen. Sie schauen an der Glasfassade hoch in den Himmel, machen Fotos und nicken. Sie sind perfekt, mit ihren Regenjacken und Gürteltaschen, den Sonnenbrillen und Fotoapparaten – der perfekte Gegensatz: Sie sind alles, was Fauser nicht war.
Jörg Fauser, Schriftsteller und Journalist, Trinker. Vor 25 Jahren gestorben, in der Nacht seines 43. Geburtstages auf der Autobahn vor einen Lkw gelaufen. Ein Schreiber auf Abwegen – sein Weg in Berlin war die Potsdamer Straße. Über sie und ihre Bewohner hat er geschrieben, hier hat er gelebt, gearbeitet und die Nächte durchgemacht. Was ist von ihm übrig, 25 Jahre nach seinem Tod? Vielleicht einfach mal losgehen, nachschauen. BMX-Fahrer kurven über den Platz, springen auf Steinbänke, um die Ecke biegt ein Bierbike. Auf der Potsdamer Straße Richtung Landwehrkanal läuft man über den „Boulevard der Stars“, ein rotes Asphaltband mit eingelassenen Bronzesternen. Berlins „Walk of Fame“, ein guter Beginn für eine Geschichte, in der die Wege eines zu Rühmenden nachgegangen werden. Für ein paar Stunden mit Fauser im Kopf und im Gepäck.
„,Warum halten Sie denn‘, fragte ich den Fahrer, der die Schlagerparade im Radio DDR abhörte. Die Schlager klangen, als hätte Karl Marx für Roy Black getextet. ,Hier wollten Sie doch hin‘, sagte der Fahrer und stellte mit dreckigem Blick den Taxameter ab. Mein erster Gedanke war, kehre um, bevor es zu spät ist; mein zweiter, du hast dich selbst in diese Ödnis gebracht, erkenne also die Lage und mache das Günstigste daraus; mein dritter, warum nicht? Vom Arsch der Welt lassen sich genauso Rückschlüsse auf ihre Beschaffenheit ziehen wie vom Venushügel.“ („Blumen für die Mauer“, 1984)
Unmittelbar hinter dem Potsdamer Platz ist gleich wieder Schluss mit Metropole. Einmal aus der Straße zwischen den Hochhäusern raus, hört man Vögel zwitschern, informieren gelbe Schilder darüber, dass die Wege im Winter nicht geräumt werden, stehen Baubuden vor der Staatsbibliothek. Auf begrünten Verkehrsinseln wachsen Brennnesseln und flattern Schmetterlinge. Die Potsdamer Straße ist hier wie eine Leerstelle, ein scharfer Kontrast zu den Touristenmassen am Potsdamer Platz. Käme jetzt ein Junge gelaufen, um in der untergehenden Sonne mit einem Stock auf die Pusteblumen vor der Staatsbibliothek einzudreschen, man würde sich nicht wundern.
Das Slumberland am Winterfeldtplatz, einen Tag zuvor: „Die Potsdamer Straße war Fausers Kiez. Hier gab es das authentische West-Berlin, kleine Leute, den Frontcharakter im Schatten der Mauer, Spionage, kalter Krieg“, sagt Detlef Bernd Blettenberg, ein alter Freund Fausers. Und auch im Slumberland, eine Kneipe mit Sandboden, „damals immer proppenvoll, die standen hier wie die Heringe“.
Blettenberg – randlose Brille, grauer Bart, Kugelschreiber in der Brusttasche – arbeitete über zwanzig Jahre für den Deutschen Entwicklungsdienst in Lateinamerika. Gleichzeitig schrieb er Krimis, sein Debütroman „Weint nicht um mich in Quito“, ein Politthriller über ermordete Gewerkschafter und rechtsradikale Paramilitärs in Ecuador, erscheint 1981 und landet auf Fausers Schreibtisch. Der, mittlerweile Kolumnist und Redakteur beim Stadtmagazin „Tip“, schreibt eine wohlwollende Rezension. Blettenberg antwortet in einem Brief, man lernt sich kennen und arbeitet zusammen.
Anfang der siebziger Jahre kommt Fauser von den Drogen los.
Ein Jahr vorher war der Deutsche Entwicklungsdienst nach Berlin umgezogen, Blettenberg zieht mit – und zwei Jahre später gleich wieder weg. Für vier Jahre wohnt er in Thailand, Entwicklungsarbeit und Schriftstellerei. „Ich glaube, Fauser hat in mir immer ‚Unseren Mann im Ausland‘ gesehen“, sagt Blettenberg. Ein Jahr vor seinem Tod besucht Fauser ihn in Thailand. Sie reisen durchs Land, recherchieren im „Goldenen Dreieck“, der Grenzregion von Thailand, Laos und Birma, Geschichten über Opiumanbau und Heroinhandel. Für Fauser kein neues Thema: Sechs Jahre war er heroinabhängig, flüchtete vom Zivildienst in einem Heidelberger Krankenhaus nach Istanbul, wo er mehr als ein Jahr lang im Junkie-Viertel Tophane versackte. Anfang der siebziger Jahre kommt er von den harten Drogen los. Und wird umgehend zum starken Trinker.
„Als Fauser zu mir nach Bangkok kam, hatte ich ein bisschen Angst, weil ich dachte, mit seiner Drogenvergangenheit fällt er mir da auseinander“, sagt Blettenberg. „Jetzt gibt er seinem alten Affen wieder Zucker, hatte ich gedacht. Aber es war ganz anders. Er war absolut zuverlässig, zu jeder Zeit höflich, es war totaler Verlass auf ihn.“ Blettenberg, 62 Jahre alt, ist seit fast zwanzig Jahren Schriftsteller und Drehbuchautor. An seinem Handgelenk baumelt ein silberner Armreif: eine Schlange mit wilder Zeichnung, ein Geschenk von chinesischen Kuomintang-Truppen aus Birma, 1986 war das. Wie ein Zitat aus frühen, wilden Zeiten, und natürlich hatte Fauser auch einen Armreif im Gepäck, nach seinem Besuch in Thailand.
Sein Mittelpunkt in diesen Jahren aber war Berlin, die Potsdamer Straße und ihre Bewohner. „Fauser war ein Nachtmensch, der sich für diejenigen interessierte, die abends nicht gleich schlafen gehen. Trinker, Spieler, Überlebenskünstler“, sagt Blettenberg, als es am Winterfeldtplatz schon lange dunkel ist. „Das war ein Milieu, in dem er sich auskannte und bewegen konnte. Sein Thema waren kleine Leute, die auf die Schnauze fallen und wieder aufstehen.“
„Und ich hockte mich an den Landwehrkanal und sah übers Wasser, es trieb aber keine Leiche darin, der Morgen war voller Sonne, auch voller Musik, und dann natürlich voller Melancholie, und weil ich keine Frau hatte, war an diesem Morgen Berlin meine Frau, sie nahm mich in ihre Arme, und ich presste mich an ihre Brust aus Stein und kühlte mich und sah, wie die Schwalben ihre Lieder in den Himmel schrieben, ,es war in Schöneberg, im Monat Mai‘, das war es wirklich, und warum nicht? Berlin war eine Frau in den besten Jahren.“ ("Blumen für die Mauer“, 1984)
Wer heute auf der Potsdamer Straße einsame Menschen sucht, findet sie immer noch am Landwehrkanal. Auf dem Geländer am Wasser sitzt Christian, Franzose mit Bürstenschnitt und Bartstoppeln. Auf dem linken Oberarm ein Totenkopf mit rotem Barett – das Wappen der französischen Fallschirmjäger – im rechten Bein eine Narbe, „Granatsplitter aus Beirut, im Libanonkrieg, in den Achtzigern“, sagt Christian, 49 Jahre alt. Und heute? „Fernfahrer, mein Lkw steht dahinten.“ Dahinten, das ist die Potsdamer Straße unter dem „40 Seconds“, der Club in der Dachetage, direkt am Kanal.
In der Beifahrertür ein Holzknüppel. "Man muss sich durchsetzen."
Später in Christians Lkw plärrt das Radio. Auf dem Beifahrersitz ein halb leerer Eimer Kartoffelsalat, in der Mittelkonsole das Rambo-Messer mit der selbst gelöteten Klinge, in der Fahrertür CS-Gas, in der Beifahrertür ein Holzknüppel. „Man muss sich durchsetzen“, sagt Christian, der bei jeder seiner Touren nach Berlin den Laster in der Potse parkt, hier an der Straße übernachtet, auch wenn jedes vorbeifahrende Auto das Fahrerhäuschen schwingen lässt.
„Das ist die beste Stadt Deutschlands, und diese Straße die beste der Stadt. Nur ein paar Cafés mehr fände ich gut“, sagt Christian. Seine Mutter starb an Leukämie, als er drei Jahre alt war, sein Vater warf sich kurz darauf vor ein Auto. So kam Christian erst in ein Heim und dann zu Pflegeeltern, die bald nach Deutschland umzogen, in den Ruhrpott nach Essen. „Ich sach immer, besser Essen und trinken als Bochum und nüchtern“, zitiert er Atze Schröder mit der Aussprache eines Louis de Funès und lacht mit offenem Mund, in dem ein Schneidezahn fehlt.
Die Armee verlässt er Mitte der Achtziger wegen einer Frau, die Frau verlässt ihn Ende der Achtziger wegen eines Mannes. Christian zieht los, macht einen Job nach dem anderen, schiebt in einem Krankenhaus Patienten in den OP-Saal, arbeitet als Türsteher, steht im Frankfurter Flughafen an der Sicherheitsschleuse.
„Alles was du brauchst, ist endlich eine Chance, eine einzige wirkliche Chance, den dicken Fisch, den großen Heuler, und dann Schluss mit der billigen Tour, einmal die Knete richtig rollen, Herrgott, die großen Lappen ans Land ziehen, den Kopf aus der Scheiße heben“ – das schreibt Fauser, der vom Leben und vom Lastwagen überfahrene, und es klingt wie ein Brief an Christian. Alles, was bei dem seit zwei Jahren rollt, ist der Lkw, er macht 1000 Euro netto im Monat plus Spesen, also Kartoffelsalat im Plastikeimer. Ein unstetes Leben. Und erstaunlich viel Alkohol für einen, der mit Autofahren sein Geld verdient.
Worauf es ankommt, sagt Christian später am Stehtisch eines Spätkaufs, Potsdamer, Ecke Kurfürstenstraße: „Anständig sein, nicht untergehen.“ Viele seiner Lkw-Fahrer-Kollegen seien Großmäuler, wüssten alles besser, glaubten, sie hätten die Welt gesehen. „Aber ich weiß viel mehr als andere Leute. Du kannst mich irgendwo aussetzen, ich finde immer zurück. Weil ich weiß, wo es langgeht“, sagt er, zeigt die Zahnlücke und läuft langsam zurück in Richtung Kanal, Camouflage-Hose und Sicherheitsschuhe: Die Huren weichen zurück, keine spricht ihn an.
„Wir steuerten den nächsten Schuppen an. Hier arbeiteten sie gerne mit K.o.-Drinks, Tropfen in den Asbach, dann traten die Nutten auf, und irgendwann kam das Opfer im Hof zu sich und das Scheckheft war weg, oder die Uhr, oder die Hose, man war nicht wählerisch. Es gab Stammgäste, die hier regelmäßig aufkreuzten, von weit her, Häuschen in Lichterfelde oder Frohnau, der Scheck gefaltet in der Hemdtasche, die Scheckkarte im Strumpf, Taxigeld abgezählt im Mantel, und dann war wieder die Uhr weg, das Sakko, der neue Hut oder der Ehering.“ („Das Schlangenmaul“, 1985)
„Na, hat’s dir nicht gefallen, du Perversling!"
Das „Love Sex Dreams“ ist ein Erotik-Supermarkt an der Potsdamer, Ecke Kurfürstenstraße. Früher war hier ein Fotokaufhaus, der Plan der Nachfolger, in den oberen Etagen des Gebäudes ein Großbordell zu eröffnen, scheiterte am Widerstand der Anwohner. Im Obergeschoss werden deshalb jetzt Pornofilme, Dessous und Sexspielzeug verkauft, im Erdgeschoss ist ein Pornokino.
An der U-Bahn-Haltestelle Kurfürstenstraße steht ein junger Mann mit Designerbrille und braunem Jackett und hat ein Problem: Sein Kumpel ist weg, viel zu lange schon verschwunden mit einer Blondine mit osteuropäischem Akzent. Nun steht er da, tippt in sein iPhone und sucht. „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht einen Jungen da drinnen gesehen?“, fragt er einen älteren Mann, als dieser aus dem lila leuchtenden LSD-Hinterausgang kommt. Der Mann blickt starr nach vorne und schüttelt den Kopf. „So einen Kleinen, mit Gel im Haar“, versucht es sein Kumpel erneut, aber nichts zu machen.
„Gibt’s doch gar nicht, und ans Handy geht er auch nicht“, sagt der Brillenträger, die Autos fahren vorbei, die Zeit verstreicht. Alteingesessene erzählen noch heute von der einbeinigen Prostituierten, die in den achtziger Jahren in der Potse auf einem Stromkasten hockte, die Krücken neben sich gelehnt, in stoischer Ruhe wartete. Von dieser Ruhe ist der Brillenmann weit entfernt.
Doch da kommt sein Begleiter zurück, im Schlepptau die Blondine, gut einen Kopf größer als er, eng anliegendes weißes Kleid, darüber ein schwarzes Stoffnetz, um die Hüfte ein handbreiter, goldlackierter Gürtel. „Na, hat’s dir nicht gefallen, du Perversling!“, ruft der Zurückgelassene. „Lass mal schnell weg hier“, murmelt sein Kumpel, die Hure grinst.
Wer ins Pornokino will, zahlt zehn Euro und passiert eine Drehtür, wie man sie vom Eingang in Freibädern kennt. Dahinter dunkle, überheizte Räume, ein Kinosaal mit einem Dutzend Klappsesseln und Aschenbechern, auf den Tischen Kleenex-Spender. Auf der Leinwand ist die Zeit stehengeblieben. So könnten sie gewesen sein, die achtziger Jahre: Frauen mit Dauerwelle, Männer mit Schnauzbart. Ort des Geschehens ist meist ein kreisrundes Bett, die Ladefläche eines Pick-up-Trucks oder ein Plastikstuhl am Swimmingpool.
Es ist Sommer 2012, es gibt Internet, Youporn und Kontaktbörsen für One-Night-Stands – und es gibt das Pornokino in der Potsdamer Straße. Ein Ort wie aus der Zeit gefallen. Entsprechend leer sind die dunklen Räume hinter dem Drehkreuz. Ein Mann mit Haarkranz, aufgeknöpftem Hemd und freiem Unterleib schlurft miesfressig durch die Gänge. Er trägt weiße Tennissocken bis knapp unters Knie, die Füße stecken in Sandalen. In seiner Hand schlenkert eine Plastiktüte, darin ein Döner und zwei Dosenbier. Wenigstens zwei Schwule haben ein wenig Spaß, zumindest den Geräuschen nach zu urteilen, die aus einem Bretterverschlag neben dem Kinosaal kommen. „Schwund in sechs Buchstaben: Berlin“, schreibt Fauser. „Der erste Blick macht einen an, und dann sieht man genauer hin und entdeckt die Zeichen des unaufhaltsamen Verfalls, den keine Mache übertünchen kann.“
Über den Hinterhof führt der Weg aus dem Kino hinaus auf die Kurfürstenstraße. Hier beginnt der Straßenstrich, je weiter von der Potsdamer Straße entfernt, desto schlechter sehen die Frauen aus. Drogenstrich. An der Ecke Frobenstraße steht eine Frau in Daunenjacke, vornübergebeugt. Sie stützt sich mit der Hand an dem Gitterzaun ab, dahinter ein Gebrauchtwagenhandel. Zwischen den Wagen hoppeln Kaninchen über den Kies, die Frau taumelt, drei, vier Mal vor und zurück, verdreht die Augen und kotzt auf die Straße.
Erst wenn du nichts mehr hast, bist du frei
„Ich habe Jörgs Unterarme gesehen, die Narben von den Einstichen“, sagt Achim Reichel. Der 68-jährige Musiker war Gründungsmitglied der Rattles, einer Beatband, die in den sechziger Jahren mit den Beatles im Hamburger Starclub und mit den Rolling Stones auf Tourneen in England spielte. Ab Anfang der Achtziger schreibt Fauser Songtexte für Reichel, die Single „Der Spieler“ landet in der ZDF-Hitparade. „Erst wenn du nichts mehr hast“, heißt es darin, „bist du frei“.
„Dass zum Spielen auch das Verlieren gehört, wusste Jörg besser als viele andere“, sagt Reichel. „Wenn er von Abstürzen und Niederlagen geschrieben hat, war das kein Geschwätz. Jörg wusste genau, worüber er da schreibt. Für viele ist diese Abwärtsspirale aus Alkohol und anderen Drogen keine freie Entscheidung, sondern folgt aus Schicksalsschlägen.“ Bei Fauser ist das einfacher: Er säuft, weil er mit dem Drücken aufgehört hat.
",Harry, was treibt dich denn her?’ Harry fand einen Hocker, zog sich hoch. ,Besichtigung‘, stieß er hervor, nachdem er saß. ,Das machen doch nur Westler. Trinkst du was?‘ ,Wodka. Reise in die Vergangenheit, Hermann.’ ,Was gibt’s da zu sehen?‘ ,Mach dir auch einen. Mich selbst gibt’s zu sehen.‘“ („Die Tournee“, Roman aus dem Nachlass, 2007)
Andere saufen, weil sie unter Druck stehen. Eine Kneipe auf der Potse, Plastikstühle vor der Tür, ein Mann sitzt und schweigt, ein anderer redet: Der letzte Tag, an dem Martin alle Finger an der linken Hand hatte, war sein siebzehnter Geburtstag, ein Sommertag im Jahr 1977, kurz vor Mitternacht am U-Bahnhof Weberwiese in Berlin, Hauptstadt der DDR. Martin kam zu spät, rannte und bekam seine Hand noch in die Tür. Der Zug fuhr los und hielt erst wieder im Tunnel kurz hinter der Haltestelle. Da war Martin schon einige Meter mitgeschleift worden und erst abgeschüttelt, als er mit der Hüfte gegen einen Betonpfeiler knallte, woraufhin sein kleiner Finger zerriss und die Fingerkuppe in der Zugtür stecken blieb. Martins Becken brach, die Harnröhre riss, und alle drei Schwellkörper dazu.
So wurde Martin an seinem siebzehnten Geburtstag impotent. Als er sechs Monate später aus dem Krankenhaus entlassen wird, beginnt er bald zu trinken. Ein kleiner Mann, 52 Jahre alt, der mit Bier in der Hand von seinem Schicksal erzählt wie andere vom letzten Urlaub. „Ich wünschte, ich wäre schwul“, sagt Martin, und die Wirtin verdreht die Augen, weil sie alles schon kennt, aber immer wieder aufs Neue hören muss. Die Geschichte von Martins Depressionen, seiner Frühverrentung, dem selbst gebrannten Schnaps und seinem Freund Dieter, der vor ein paar Jahren betrunken die Treppe hinunterstolperte, auf den Kopf fiel und seitdem ein Pflegefall ist. „Überleg doch mal, wie viele in deinem Alter schon lange tot sind, kaputtgesoffen, schwachsinnig geworden“, sagt sie zu Martin. Es ist ein Trostversuch nach Art des Hauses, ungeschönt und ehrlich, und Martin schaut sie an, überlegt einen Moment und erzählt die Geschichte vom Revolver im Wohnzimmerschrank, der vierläufige Derringer. „Wenn ich mal nicht mehr will, ist es ganz einfach“, sagt er.
Alleine gegen vier
„Ich glaube, Fauser war das klassische Modell: Harte Schale, weicher Kern“, sagt Alfred Holighaus, mit 53 Jahren der jüngste in der Reihe der Fauser-Freunde. Ein Theologiestudium in Tübingen brach er rechtzeitig ab, um Anfang der Achtziger als Filmkritiker beim „Tip“ anzufangen. Ein gut gelaunter Mann, der in Puschel’s Pub an der Potsdamer Straße sitzt und von Abstürzen im Mauerberlin mit seinem Kollegen Jörg ebenso berichten kann wie vom Genius Bob Dylan. Heute ist er Chef der Deutschen Filmakademie und verantwortlich für den „Boulevard der Stars“.
Für Fauser wäre darauf kein Platz gewesen, dafür legte er sich zu gern mit den Etablierten an. „Er hatte Freude an der Provokation. Ob er die linke Szene ärgerte, wenn er zu später Stunde die erste Strophe der Nationalhymne sang, oder Leute, die ihm nicht passten, einfach auflaufen ließ“, sagt Holighaus. „Wenn er betrunken war, zog es ihn an die Ränder. An die eigenen und die seiner Umgebung. Da war immer eine Drift in ihm. Dass Leute wie er auch manchmal was auf die Nase bekommen, ist ganz normal.“
Fausers altes Wohnhaus in der Goebenstraße 10, ein dunkler Altbau mit einem Portal in Übergröße. Es ist weit nach Mitternacht, als Wind aufkommt. Fünf junge Männer stehen auf der Straße, vielleicht fünfzig Meter von Fausers Haus entfernt. Als die ersten Tropfen fallen, schlägt der Mann im grünen Shirt dem Mann im schwarzen Shirt ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht. Der wehrt sich, steht aber alleine gegen vier. Er kann ganz schön was ab, hat aber am Ende keine Chance, ein letzter Kinnhaken, und er rennt davon. „Wenn sie Spaß daran haben, können sie sich gerne verkloppen, aber warum denn nicht im Wald“, sagt der Mann mit der Nickelbrille, der jetzt aus einem Wettbüro kommt, auf dem Rücken seiner Jacke der Aufdruck „Security“.
Dann fängt es an zu regnen, ein Wolkenbruch. Die Straße ist längst wieder leer, als ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene über die Potsdamer Straße jagt und langsam in die Goebenstraße einbiegt. Ein Polizist betrachtet den regennassen Bürgersteig, keine Menschenseele mehr, dann fährt das Auto davon.
"„Pass auf, dass du nicht zu Boden gehst, dachte ich noch, ich hielt die Brille fest und bekam noch einen Tritt in den Magen ab, dann lag ich draußen. (...) Ich suchte meine Brille, bis ich feststellte, dass ich sie in der Hand hielt. Ich setzte sie auf. Aus der Nähe sah das Pflaster interessant aus, es gab sogar einen Riss, der durch den Asphalt lief, und in dem Riss spross ein Grashalm. Wenn das so ist, dachte ich, kannst du auch aufstehen.“ („Rohstoff“, 1984)
Tiemo Rink