Armutsbericht: Fast jedes dritte Kind in Berlin ist arm
Der neue Armutsbericht belegt: Das rasante Wachstum der Hauptstadt drängt die sozial Schwächeren immer weiter an den Stadtrand. Sieht Berlin bald aus wie Paris, wo sich die von der Gesellschaft Abgehängten in den Banlieues sammeln?
Das sind keine guten Nachrichten, so kurz vor dem Volksentscheid über den Beschluss des Berliner Senats zur Bebauung des Tempelhofer Feldes. Der Armutsbericht ist erschienen und zeichnet das Bild einer durch die Fliehkräfte des Marktes auseinanderdriftenden Stadt. Auf eine einfache Formel gebracht lautet das Ergebnis: Dazu gehört, wer im Zentrum wohnt, alle anderen bleiben außen vor.
Ganz weit draußen, abgekoppelt vom reichen Angebot Berlins, von innovativen Kitas und guten Schulen, von brillanten Uraufführungen und coolen Partys – ohne Zugang zu allem, wofür das neue Berlin steht, dessen Glanz die Stadt weit über ihre Grenzen hinaus zum Sehnsuchtsort gemacht hat.
Ist Berlin auch bald von Banlieues umgeben?
Und wenn schon. Nach Jahren der Teilung entwickelt sich Berlin eben endlich zu einer Metropole europäischen Rangs. Gemessen daran lebt es sich hier immer noch gut und günstig. Das ist richtig, nur der Maßstab ist falsch: Nicht einmal an den deutschen Durchschnitt reicht Berlins Wirtschaftskraft heran.
Und weil die West-Berliner jahrzehntelang in hoch subventionierten Niederlassungen fernab gelegener Firmen beschäftigt waren und die Ost-Berliner in unproduktiven Staatsbetrieben, halten viele nicht mit beim rasanten Aufholprozess. Sie werden an den Rand gedrängt: räumlich und sozial.
Darin schließt Berlin dann doch zu Paris auf, wo Banlieues Sammelbecken schlecht ausgebildeter Geringverdiener sind, die aus der Provinz oder den früheren Kolonien in die Stadt zogen, die Hoffnung auf ein besseres Leben im Gepäck.
Spandau ist keine Banlieue und auch Reinickendorf nicht, aber auch hier leben immer mehr Berliner mit türkischen Wurzeln, die ähnlich wie die „Maghrébins“ in der Schwebe zwischen den Kulturen leben. Hier wie dort aber sind nicht Kultur oder Herkunft schuld an den Problemen, sondern Bildung. Bildung, die fehlt. Auch vielen Deutschen in den Brennpunkten.
Fast jedes dritte Kind in Berlin ist arm
Der Vater des Armutsberichts Hartmut Häussermann sprach davon, dass Armut und Hartz-IV-Biografien in Brennpunkten von Eltern und Nachbarn „vererbt“ werden. Wie viel Kraft muss es ein Kind kosten, zur Schule zu gehen, wenn alle um es herum jede Hoffnung auf einen Job und geregelten Alltag fahren ließen?
Fast jedes dritte Kind in Berlin ist arm und von diesem Erbe bedroht. Es kann einem bange werden angesichts der Dimension. Zumal die Entwicklung an ihren Rändern auf die ganze Stadt durchschlägt: Jüngst senkte der Senat die Ansprüche zum Erwerb von Schulabschlüssen. Und das in einer Zeit, in der Wissen gleichbedeutend mit Wachstum ist.
„Keiner hat das Recht, im Stadtzentrum zu wohnen“, hat der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit einmal gesagt. Das ist richtig, gemessen am Armutsbericht aber kurzsichtig.
Die Vorzüge der „Berliner Mischung“ erkannte der Stadtplaner James Hobrecht schon vor 150 Jahren: Weil sich der Sohn des Heizers, der im Keller wohnte, mit der Tochter des Studienrates aus der Beletage im Hausflur trifft und sie gemeinsam den Schulweg antreten. Guter Einfluss halt. Soziale Utopie? Nein, der Blick fürs Ganze gehört zu verantwortungsvoller Politik, zumal in einer Marktwirtschaft, die sozial sein will.
Der Armutsbericht ist ein Weckruf für die Zivilgesellschaft. In akuter Gefahr sind die Schwächsten unter uns, die Kinder. Dabei müssen sie die Zukunft gestalten. Die Strategien für Brennpunkte müssen rasch auf den Prüfstand einer Kommission von Senat und allen Bezirken. Bevor die Lage am Rande Berlins so aussichtslos wird wie in den Pariser Vororten.