Berlin: Faseralarm
Asbest in einer Kladower Schule, Asbest im Palast der Republik – Berlin und der gefährliche Baustoff: Fast vergessen war er schon. Dabei erwarten Ärzte die Spitze der Todesfälle erst in zehn Jahren
Von Wiebke Heiss
Der Schreck sitzt tief bei Eltern, Lehrern und Schülern. Mit Spitzhacken haben sie die Wände eingerissen, haben beim Sanieren ihrer zukünftigen Schule viele Stunden lang staubige Luft eingeatmet, nicht wissend, dass sie krebserregende Fasern enthielt. Die Kladower Eugen-Kolisko-Schule für Waldorfpädagogik ist asbestbelastet, und nun ermittelt sogar die Kripo wegen unsachgemäßen Umgangs mit Gefahrenstoffen. Und die Sorge wird vielleicht noch lange anhalten, denn: Vom ersten Einatmen der Fasern bis zum Ausbruch möglicher Beschwerden dauert es im Schnitt 36 Jahre. Die sogenannte „Latenzzeit“ ist lang.
Genau deshalb ist die Diskussion um Asbest heute genauso aktuell wie in den 70er Jahren, als die Gewissheit immer größer wurde, dass Asbest den Menschen todkrank machen kann. Trotzdem hat es bis 1993 gedauert, bis der Baustoff verboten wurde. Nun ist er von der Europäischen Kommission eingestuft in die Gefahrstoffklasse 1 – sehr stark krebserregend – und tötet immer noch, Jahr für Jahr, Menschen, die mit ihm gearbeitet haben.
„Asbest ist keineswegs ein Problem der Vergangenheit“, hat der emeritierte Arbeitsmedizinprofessor Hans-Joachim Woitowitz aus Gießen gerade vergangene Woche auf der ersten deutschen Asbestkonferenz gesagt, die der Verein „Lebensluft“ – auch Betroffene hatten ihn im Juli mitbegründet – in Berlin organisiert hat. Woitowitz beschäftigt sich seit den 60er Jahren mit Asbest und Arbeitsschutz und hat maßgeblich zum Verbot des Baustoffs beigetragen. Er sagt: „Die Spitze der Krankheits- und Todesfälle ehemaliger Asbestarbeiter erwarten Forscher erst in den Jahren 2015 bis 2020.“ Allein 2004 starben nach Angaben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften aber schon um die 1600 Menschen in Deutschland, Tendenz steigend. Damit kommen durch asbestverursachte Krankheiten mittlerweile mehr Menschen um als durch Arbeitsunfälle.
Schuld daran sind die Fasern. Asbest ist ein Sammelbegriff für einige faserige Minerale, so weich und biegsam wie Baumwolle oder Leinen. Jahrzehntelang wurden sie in Minen auf allen Kontinenten abgebaut, dann zu Platten gepresst oder zu Schnüren gedreht. Als Material der tausend Möglichkeiten rühmte man Asbest. Für viele technische Produkte ist es ja auch optimal geeignet: Es ist hitzebeständig, säureresistent, reißfest, flexibel und auch noch billig. Aber die Fasern sind eben auch gefährlich: weil sie widerstandsfähig sind und so dünn, dass manche noch nicht einmal durch das Lichtmikroskop sichtbar werden. Wenn sie eingeatmet werden, wandern sie bis in die Lungenbläschen, wo das Immunsystem zur Abwehr ansetzt. Doch gegen die stabilen Stäbchen sind die Fresszellen machtlos. Sie verkleben mit den Fasern. Die Lunge wird gereizt, das Gewebe vernarbt, Tumoren können wachsen.
Die Folgen: die Asbestose, eine Staublunge, an der man selten stirbt, aber die zu schwerster Atemnot führen kann. Oder Lungenkrebs. Oder ein Mesotheliom – Krebs des Rippen- oder Bauchfells, der fast immer tödlich endet. Es genügen schon geringe Mengen Asbestfeinstaub, theoretisch schon eine einzige Faser.
Handwerker in den 70er Jahren waren aber nicht nur einzelnen Fasern ausgesetzt, sondern unvorstellbaren Staubmengen: 30 bis 60 Millionen Fasern pro Kubikmeter Atemluft maß Woitowitz in der Umgebung, wenn Arbeiter Asbestzement oder –rohre geflext haben. Diese Menschen sind extrem gefährdet, nun an den Folgen zu erkranken. Daher wurden vorsorglich bereits 511 358 deutsche Arbeitnehmer, aktuelle und ehemalige, in der „Zentralen Erfassungsstelle asbeststaubgefährdeter Arbeitnehmer“ in Augsburg eingetragen , einer Gemeinschaftseinrichtung von über 100 Unfallversicherungsträgern und Berufsgenossenschaften. 309 891 Eingetragene wurden schon zum regelmäßigen Arztbesuch aufgerufen. „Die geschätzten Kosten, die auf unsere Wirtschaft zukommen, liegen bei acht bis zehn Milliarden Euro“, sagt Hans-Joachim Woitowitz; allein für die medizinische Versorgung und die finanzielle Entschädigung der Betroffenen und Hinterbliebenen. Und: Noch nirgendwo sind Hobby-Handwerker oder Schwarzarbeiter erfasst, die Dächer zerlegt oder Rohre herausgerissen haben – möglicherweise aus Asbest –, plus jene, die Schaden nahmen, obwohl sie nie selbst mit dem Mineral gearbeitet haben. „Mir sind Fälle bekannt, wo zum Beispiel eine Ehefrau erkrankt ist“, erzählt Hans-Joachim Woitowitz. „Sie hat täglich die Arbeitshosen ihres Mannes nach seiner Schicht in der Asbestfabrik ausgeschüttelt. Sie starb an einem Mesotheliom.“
Die Gefahr ist auch heute noch nicht gebannt, denn das Krebsgift hat überlebt. Im Brandschutz, der Stahlstelen in Hochhäusern ummantelt, in Küchenbodenbelägen aus den 80ern oder in den gewellten Dächern, die nicht nur auf Gartenlauben liegen. In den 60er, 70er und 80er Jahren wurde der „Wunderstoff“ integriert, wo er nur hineinpasste – es entstanden mehr als 3000 Produkte, die verbaut wurden. „Aber niemand verfügt über irgendwelche Zahlen zu Asbest in Wohnungen in West- und Ost-Berlin“, sagt Karin Wüst, die sich mit den Folgen von Asbest-Altlasten in Berlin beschäftigt. Sie ist Arbeitsschutzaufsichtsbeamtin beim Landesamt für Arbeitsschutz (LAGetSi), Spezialgebiet Asbest und künstliche Mineralfasern. Karin Wüst überprüft, ob auf Baustellen die Vorschriften für Gefahrstoffe eingehalten werden.
„Es passiert häufig, dass Firmen unsachgemäß arbeiten“, sagt sie. Dabei gibt es Lehrgänge und Schulungen, in denen Bauarbeiter und Handwerker auf den richtigen Umgang mit asbesthaltigen Produkten vorbereitet werden, und die Vorschriften sind streng: Räume oder Häuser müssen luftdicht abgeschottet werden, Handwerker müssen Schutzanzug und Maske tragen, in Schleusen gereinigt werden, bevor sie das Gebäude verlassen dürfen. „Aber dann hört man doch wieder Beschwerden, dass jemand ungeschützt ein Asbestrohr mit einer Flex zerschneidet.“
Die Fasern sind nicht gefährlich, solange die Produkte nicht beschädigt sind. Dann sind sie fest eingebunden wie in den ebenen und gewellten Platten namens Eternit, in Schornsteinverkleidungen, Tischtennisplatten und Blumenkästen. Fehlt aber eine Ecke, ist da ein Riss, dann können Fasern in die Luft gelangen. Bei schwach gebundenem Asbest wie Spritzasbest, Asbestpappe oder -schaumstoff reicht dann schon ein Windstoß.
Karin Wüst betont: „Privatpersonen in Berlin sind nicht in Gefahr, aber in der einen oder anderen Wohnung schlummern Gefahren, derer man sich nicht bewusst ist.“ Aufmerksam sollte werden, wer zum Beispiel ältere Nachtspeicheröfen hat. Die enthalten meist Fasern, die freigesetzt werden könnten, wenn man den Ofen rüttelt. Auch sogenannte „Cushion-Vinyl-Beläge“ – PVC mit oft auffälligem Fliesendekor – können schwach gebundenen Asbest enthalten. „Bei Unsicherheiten sollte man einen Sachverständigen zu Rate ziehen“, rät Karin Wüst. Oder zuerst beim Vermieter nachfragen. „Viele Wohnungsbaugenossenschaften wissen über ihre Objekte Bescheid, die meisten verfügen über ein Schadstoffkataster“, sagt Wüst. Darin ist vermerkt, wo im Haus sich gefährliche Substanzen wie Asbest, PCB oder Schimmelpilze finden. Allerdings scheuten sich viele Unternehmen noch, offen mit dem Thema umzugehen. „Da ist oft der Tenor: Lieber nichts sagen, dann passiert schon nichts.“
Karin Wüst könnte besser arbeiten, „wenn Gebäude bewertet würden, ob von ihnen eine Gesundheitsgefährdung nach Asbestrichtlinie ausgeht“ – wie es bei Schulen und Büros in den 90ern schon geschehen ist. Sie ist „der festen Überzeugung, dass wir heute Menschen gefährden, die Kontakt mit Asbest haben. Wir haben es nicht geschafft, alle ausreichend zu schützen.“ Absolut sicher ist letztendlich nur der, der in einer Wohnung lebt, die nach 1993 gebaut wurde.
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