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Fahrrad-Autobahn. Die Avus war für ein paar Stunden den Radlern vorbehalten.
© Thilo Rückeis
Update

Massen-Demo auf auf zwei Rädern: Fahrradsternfahrt in Berlin: Bitte durchtreten

Sie gehörte zu den bislang größten Demos des Jahres in Berlin - die traditionelle Fahrradsternfahrt. Die Veranstalter vom ADFC sprachen von 200.000 Teilnehmern. Darunter waren auch recht weitgereiste.

An diesem Sonntag besteht Berlin aus sehr vielen Entspannten, unter denen auch ein paar Abgespannte sind. Gemeinsam können sie einige Angespannte beobachten, während sie von uniformierten Verspannten betreut werden. Die Entspannten, das sind die gewöhnlichen Teilnehmer der großen Fahrradsternfahrt – die auf angenehme Art den Querschnitt der Berliner Bevölkerung repräsentieren: Vom Baby im Anhänger über wild kurbelnde Grundschüler, unverschämt gut gelaunte Jugendliche und eine ziemlich große Mittelalterfraktion bis hin zu fitten Rentnern.

Hinfällige Hollandmöhren rumpeln zwischen vollgefederten 30-Gang-Hightech-Schockern; manche haben Blumen oder einen Ghettoblaster im Körbchen, ein paar fordern auf ihren Warnwesten sofortigen Baustopp in Schönefeld, einer fährt nackt – und keinen interessiert’s. So wie Berlin im Idealfall eben ist, der typischerweise an Sonntagen wie diesem eintritt, wenn die Sonne scheint, ohne den Leuten gleich die Sicherungen durchzubrennen.

Die Abgespannten sind rund um ein paar polnische Fahnen im Getümmel zu finden: Eine Truppe von 41 Berlinern und 33 Polen ist schon am späten Samstagabend in Stettin gestartet und über den Oderdeich und Eberswalde nach Berlin geradelt. ADFC-Tourleiter Hajo Legeler, der diesen längsten der 19 Sternenstrahlen angeführt hat, schwärmt bei der Ankunft am Großen Stern von der Nacht auf dem Oderdeich, als am Horizont nur ein schwacher Silberstreif und die Lichter der Raffinerie in Schwedt zu sehen waren und im Scheinwerferlicht die Rehe und Hirsche sprangen. „Das war so herrlich, wir sind alle ganz glücklich“, schwärmt er am Sonntagnachmittag, während in ihm die Euphorie mit dem Jetlag kämpft.

Ein Gag der Polizei? Tempo 40 fordert das Verkehrsschild an der Einfahrt zum Britzer Autotunnel. Die Radler auf Sternfahrt nehmen es gelassen.
Ein Gag der Polizei? Tempo 40 fordert das Verkehrsschild an der Einfahrt zum Britzer Autotunnel. Die Radler auf Sternfahrt nehmen es gelassen.
© Stefan Jacobs

Der ADFC meldet 200 000 Teilnehmer, was angesichts des Wetters und im Gegensatz zu früheren, teils arg verregneten Sternfahrten nicht abwegig scheint. Mindestens jeder zweite davon stand vor dem Britzer Autobahntunnel bis zu einer Stunde im Stau, weil die zwei Zufahrtsspuren auf die A 100 sich für die Masse der Radler als Nadelöhr erwiesen. Die Wartezeit erwies sich als praktisch, um mal ein paar fremde Meinungen über Themen wie Helmpflicht („Seit meiner nach einem Sturz einen Riss hatte, fahre ich auch die 500 Meter zu Aldi nicht mehr ohne!“), Tempelhof-Entscheid („Is’ dit schön da!“), zur Bewältigung typischer Berliner Radwege („Ein Mountainbike ist ideal.“), zur Motivation der Teilnehmer („Ich will mal wissen, wo genau die Blitzer im Tunnel hängen.“) und zum Motto der Sternfahrt („Ach, das ist eine richtige Demo hier?!“) einzuholen. Denn offiziell geht es um „Radsicherheit für Berlin: Freie Radspuren!“ Und inoffiziell um das große Hallo in der Röhre durch Britz, dessen klingelfreundliche Akustik zusammen mit dem traumhaft glatten Belag auch bei arrivierten Menschen Euphorieschübe auslöst.

Der Rolls rollt mit. Der Oldtimer fuhr einige Zeit im Radlerpulk mit.
Der Rolls rollt mit. Der Oldtimer fuhr einige Zeit im Radlerpulk mit.
© Stefan Jacobs

Ein ähnlicher Effekt stellt sich auf der Avus ein, deren leichtes Gefälle man mit dem Auto sonst gar nicht bemerkt. Auf dieser Route ist beispielsweise Michael Cramer, Verkehrspolitiker und EU-Abgeordneter der Grünen, mitgefahren. „Vor 25 Jahren wurde zum ersten Mal die Avus für uns gesperrt“, erzählt er. „Damals sind wir als die großen Spinner verteufelt worden.“ Jetzt genießt Cramer die Masse der Gleichgesinnten – und lobt die Polizisten, „die das absolut freundlich und gut machen“.

Was macht der Rolls Royce im Pulk?

Die Beamten, vor allem die auf den Motorrädern, sind die Verspannten, denn sie sind im Dauerstress und müssen teilweise wie Stuntmen durch den Gegenverkehr, um den Pulk vor jeder Kreuzung neu zu überholen und gegen die Angespannten zu verteidigen, die ihn ihren Autos sitzen und im besten Fall nur die Mundwinkel hängen lassen. Im schlechteren drängeln sie sich zwischen die Radler – so wie jener alte Rolls Royce an der Buschkrugallee, der wohl nur deshalb nichts aufs Blech bekam, weil er ein alter Rolls Royce war und die vier Insassen aussahen wie die Staffage einer Elvis-Revival-Show. Die Polizei, die mit 640 Beamten zumindest die größeren Querstraßen erfolgreich verteidigt, meldet bis zum Nachmittag jedenfalls keine Zwischenfälle.

Umweltfestival am Brandenburger Tor

Nach dem Genuss der autofreien und entsprechend ruhigen und durchgelüfteten City West – Warum darf es eigentlich auf dem Ku’damm sonst nie so schön sein?! – sammelt sich alles auf der Straße des 17. Juni, wo die großen Anzeigetafeln bereits vor Stau ab der Siegessäule warnen.

Am Brandenburger Tor ist das Umweltfestival aufgebaut, wo sich gleich der nächste Radelurlaub anbahnen oder Saft und Seife aus artgerechter Haltung kaufen lässt. Wer nicht schon beim Brezelmann schwach geworden oder auf die Wiesen im Großen Tiergarten abgebogen ist, lässt sich hier zu Fuß noch ein bisschen treiben. Man darf nur nicht vergessen, wo genau man sein Fahrrad geparkt hat. Denn es sind noch sehr, sehr viele andere hier.

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