Toter Winkel bei LKW: Neue Technologie soll Radler retten
Auf der Beifahrerseite eines LKW wird es für Radler und Fußgänger gefährlich. Technische Lösungen gibt es, sie sind aber noch nicht reif für die Serie.
Die Sache hörte sich vielversprechend an: „Die Technologie-Entwicklung des Blind Spot Assist ist nunmehr abgeschlossen“, verkündete Daimler-Mann Sven Ennert im vorigen Herbst. Ennert ist Leiter der weltweiten Entwicklung für den LKW-Bereich des Konzerns – und was er präsentierte, war eine technische Lösung, die eins der häufigsten und gleichzeitig gravierendsten Unfall-Szenarien zwischen Lastwagen und Radfahrern entschärfen soll: Die Kollision zwischen rechtsabbiegendem LKW und geradeaus fahrendem Radler rechts von ihm.
Technologien noch nicht marktreif
Die Unfallart ist notorisch, weil Radfahrer oder Fußgänger trotz diverser Spiegel an der Seite des Lasters schnell übersehen werden können. Und für den schwächeren der Beteiligten geht sie sehr oft tödlich aus. Jeder Stadtbewohner kennt die Horrorbilder von Zwillingsreifen, unter denen die verbogenen Reste eines Fahrrads hervorragen. Schon seit langem fordern Experten daher die Entwicklung technischer Lösungen. Der Autoclub ADAC ebenso wie der Allgemeine Deutsche Fahrradclub ADFC oder die Bundesregierung in Gestalt von Katharina Reiche, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium.
Doch die Sache ist knifflig. Denn zwar funktioniert die Daimler-Lösung, für die Radarsensoren vor die Hinterachse des Lasters montiert werden, nach Angaben des Herstellers grundsätzlich. Doch mit der Einführung solcher Systeme wird es nicht so schnell gehen, wie die Erfolgsmeldungen von Daimler und anderen Herstellern es glauben machen – das schob der Chef-Entwickler direkt hinterher: „Allerdings muss das System vor der Markteinführung entwicklungsseitig umfassend getestet werden. Das bedeutet, es müssen noch hunderttausende Testkilometer absolviert, und das System auf unterschiedliche Fahrzeugvarianten angepasst werden.“
Auf Nachfrage mag sich das Unternehmen noch nicht einmal auf einen ungefähren Zeithorizont festlegen, an dessen Ende der Radfahrerschutz serienreif sein könnte. Bei anderen Herstellern ist es ähnlich. Zwar hat auch MAN schon das Konzept eines Abbiege-Assistenten auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt gezeigt, doch auch hier macht man keine Angaben zum Zeitrahmen. „Fünf bis zehn Jahre“ nennt wiederum Volvo als anvisierten Entwicklungszeitraum für ein optisches System, das den Raum rund um den LKW permanent scannen und analysieren soll.
Chaotischer Verkehr erschwert die Entwicklung
Die Debatten über solche Schutzsysteme gegen das Überrollen von Radfahrern und Fußgängern laufen schon lange, insgesamt ist die Entwicklung elektronischer Assistenzsysteme für PKW und LKW in den letzten Jahren in großen Schritten vorangekommen. Radarsensoren und Kamerasysteme gehören inzwischen zur Standardausstattung vieler Fahrzeuge, entsprechend ist der Preis für die Komponenten stark gesunken. Warum also kommt die Entwicklung eines Warnsystems für Radler im Toten Winkel nur so langsam vorwärts?
Das liegt vor allem daran, dass der Stadtverkehr ein sehr komplexes System ist. LKW fahren mit geringem Abstand zwischen anderen Fahrzeugen, Fußgängern und Radlern umher, am Rand der Straße stehen Schutzgitter, Stromkästen, Laternenpfähle, Ampeln und noch alle möglichen anderen Dinge. Die Umgebung bewegt sich zum Teil chaotisch, es ist schwer vorherzusehen, wie sich die Dinge entwickeln. Da sind Sensoren und Kameras die eine Sache – eine andere die Software, die die gelieferten Daten interpretieren kann. „Für uns geht es jetzt darum, die Technologie abzusichern“, beschreibt eine Sprecherin des Daimler-Konzerns. „Sie muss in jeder Fahrzeugkonfiguration und bei allen Verkehrs- oder Witterungssituationen zuverlässig funktionieren.“ Das heißt: Dem System darf einerseits nichts entgehen. Gleichzeitig darf es aber auch nicht permanent Fehlalarme liefern.
Akustische Signale sollen zusätzlich warnen
Und dazu muss die Software in kürzester Zeit unzählige Entscheidungen treffen: Das, was sich vom Bürgersteig auf die Straße bewegt, ist das ein Fußgänger, der an der roten Ampel stehenbleiben wird? Befindet sich das bewegliche Objekt noch neben dem Truck auf der Straße oder schon auf dem Trottoir, wo es dem Wagen nicht in die Quere kommt? Und wann ist der richtige Zeitpunkt für eine Warnung, wann ist sie unnötig, wann kommt sie zu spät? Systeme, die vor allem nerven, werden nicht mehr beachtet oder sogar stillgelegt.
Wer schon einmal mit einem LKW in der Stadt unterwegs gewesen ist, der weiß, dass das Fahren hier manchmal Zentimetersache ist, 40-Tonner passen kaum in die Fahrspur mancher mehrspuriger Straßen. Für sein kommendes System setzt Daimler daher auf eine zweistufige Warnung: Hat der Assistent erkannt, dass rechts vom Wagen ein bewegliches Objekt unterwegs ist, dann leuchtet in der rechten A-Säule, direkt neben den Spiegeln, ein gelbes Warnsignal auf. Setzt der Fahrer den Blinker oder leitet sonstwie für das System erkennbar einen Abbiegevorgang ein, während etwas im Weg ist, wechselt die Leuchte auf Rot. Ein laut Hersteller „sehr, sehr deutlicher“ Warnton erschallt.
Das akustische Signal ist deshalb sinnvoll, weil die Augen des Truckers in heutigen LKW sowieso schon genug beschäftigt sind: An der Beifahrerseite hängen inzwischen bis zu vier Außenspiegel, um Kollisionen beim Abbiegen zu verhindern. Dazu Spiegel links, mittig, eventuell Heckkamera und natürlich die Windschutzscheibe – für die Fahrer besteht das größte Problem inzwischen darin, noch alles im Blick zu behalten.
Deshalb haben sich Kamera-Systeme für die Beifahrerseite, wie es sie bereits gibt, auch nicht als der große Durchbruch bei der Verhinderung von Unfällen zwischen LKW und Radlern erwiesen. Zwar bietet zum Beispiel Scania solche Kameras nebst Monitor an, Continental hat ein System auf den Markt gebracht, das die Bilder verschiedener Kameras zu einem Rundum-Bild aus der Vogelperspektive kombiniert. Aber allen solchen Systemen ist gemein, dass der Fahrer auch im richtigen Moment seine Augen an der richtigen Stelle haben muss – von Dunkelheit mal gar nicht zu reden.
Immerhin, es geht es voran
Radarsensoren, Laserscan, optische Bilderkennung per Computer – oder auch eine Kombination von allem: Bei der Entwicklung von Abbiege-Assistenten für LKW versucht jeder Hersteller, auf seine eigene Weise ans Ziel zu kommen. Aber immerhin zeigen die Bemühungen und auch die Ankündigungen, dass man gewillt ist und daran arbeitet, Lösungen zu finden, die Unfälle zwischen LKW und Radfahrern deutlich reduzieren können.
Dass in Sachen elektronischer Unterstützung die Dinge in Bewegung sind, das zeigt ein anderes Assistenzsystem, das im November 2015 für alle neu zugelassenen LKW Pflicht werden wird. Ein Notbrems-Assistent soll dann dafür sorgen, dass Auffahrunfälle von Lastwagen deutlich seltener werden. Derzeit sind auch sie eine der häufigsten Varianten von Unfällen mit LKW-Beteiligung. Allerdings sind solche Notbrems-Systeme deutlich einfacher zu realisieren als ein Abbiege-Assistent für den Stadtverkehr. Denn hier gilt es nur die Fläche vor dem Wagen zu scannen, außerdem passieren solche Crashs meist auf Autobahnen, wo die Lage aus Sicht von Sensoren und Software deutlich übersichtlicher ist.
Es hilft wohl nichts. Bis auf weiteres müssen Radfahrer immer damit rechnen, dass der Fahrer im Führerhaus sie übersehen hat. Oder wie es ein altgedienter LKW-Fahrlehrer beschreibt: „Es gibt Situationen, da muss man als Trucker schon vorher mitgezählt haben, wieviele Radfahrer man gerade überholt hat. Denn an der Ampel kann man nicht mehr sehen, wer neben einem steht.“ Und als schwächerer Kontrahent sollte man sich besser nicht darauf verlassen, dass sich der andere richtig geguckt hat.
Kai Kolwitz
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