Radfahrer gegen Autofahrer: Der tägliche Verkehrskrieg in Berlin
Ein kleiner Zwischenfall reicht aus, um aus Radfahrern und Autofahrern die ärgsten Feinde zu machen. So uneinig sind sich sonst nur Umweltaktivisten und Castortransporteure. Warum eigentlich?
Heiligensee ist eigentlich eine der ruhigeren Ecken von Berlin. Auseinandersetzungen finden hier eher zwischen Nachbarn um die Größe des Grenzzaunes oder den Schnitt einer Hecke statt. In Sachen Verkehr ist der Bezirk höchstens durch Fluglärm belastet, ansonsten aber nicht weiter aufgefallen. So denkt sich auch Bernd Matthies nichts Böses, als er an diesem Vormittag im August seine Stammstrecke, die Schulzendorfer Straße, entlangradelt. An einer "Rechts vor links"-Kreuzung gewährt er einem Auto Vorfahrt. Ein zweites Auto kommt mit etwas Abstand hinterher. Journalist Matthies, Redakteur beim Tagesspiegel, tritt in die Pedale. Er denkt, er schafft es noch vor dem herannahenden Pkw. Das Fahrzeug, das Thomas L.* steuert, muss aber dennoch bremsen, weil es schneller als von Matthies gedacht an der Kreuzung ankommt. Keine Vollbremsung, aber der Wagen muss seine Geschwindigkeit deutlich reduzieren. Der Autofahrer hupt, Bernd Matthies fährt weiter.
So weit ist das ein ganz normaler Vorgang. Ein Zusammentreffen zweier Verkehrsteilnehmer, wie er sich jeden Tag tausendfach in einer Großstadt ereignet. Es kann darüber diskutiert werden, ob Thomas L. zu schnell gefahren ist, es ist nicht sicher zu klären, ob es eine abfällige Handbewegung von Matthies nach dem Hupen gab. Dennoch keine große Sache. Normalerweise ein kurzer Aufreger, vielleicht noch ein paar unschöne Gesten und höchstens ein Wortgefecht. Dann sollten die Parteien ihrer Wege gehen. Was dann aber passiert, ist allerdings ein Phänomen, das Experten im Straßenverkehr immer häufiger beobachten: Die Situation eskaliert fast ohne Grenzen. Thomas L. verfolgt Bernd Matthies, schneidet ihn auf seinem Rad, stellt sich mit seinem Fahrzeug in die Einfahrt eines nahe gelegenen Supermarktes und versucht Matthies zu stoppen.
Jeder hat nur seine Interessen im Blick
Der hält an, aber nach kurzem Wortwechsel umkurvt der 59-Jährige das Auto und fährt weiter. L. gibt nicht nach, verfolgt Matthies erneut, versucht ihn wieder zu stellen und stößt ihn schließlich vom Rad. Selbst nach dieser Handgreiflichkeit schimpft L. weiter auf den am Boden liegenden Matthies ein. Der holt sich selbst einen Krankenwagen, weil er einen stechenden Schmerz spürt. Am Ende ist ein Beckenbruch und monatelange Arbeitsunfähigkeit bei Bernd Matthies und eine siebenmonatige Bewährungsstrafe für Thomas L. in erster Instanz das Ergebnis der Auseinandersetzung.
Siegfried Brockmann nennt solche Vorfälle das "Zusammentreffen von Individuen bei ihrer Selbstverwirklichung". Der oberste Unfallforscher des Gesamtverbandes der deutschen Versicherer kennt viele solcher Fälle aus seiner Praxis. Die Spanne reicht vom Klingeln oder Hupen über das Wortgefecht bis zur handfesten Schlägerei. "Jeder hat erst mal nur seine Interessen im Blick. Das durchzieht die ganze Gesellschaft", erklärt Brockmann die zunehmenden Aggressionen im Straßenverkehr. Von Kindesbeinen an versucht der moderne Mensch unserer Gesellschaft sich selbst und seine Interessen zu verwirklichen. Diese Selbstsucht werde dann auch in den Straßenverkehr transportiert. "Das Verkehrssystem kann nur funktionieren, wenn sich alle an Gesetze und Normen halten. In der Praxis treffen auf der Straße aber unglaublich viele gegensätzliche Interessen aufeinander, die alle nach etwas anderem streben", sagt Brockmann. Man setze sich ins Auto oder auf das Fahrrad, entwickele einen Plan und der solle auch genauso eintreten wie gewünscht. Kommt irgendwas dazwischen, dann steigt schnell der Puls. "Es gibt permanent eine Lage, in der nicht alles so ist, wie es für einen selbst ideal wäre. Und damit können wir immer schlechter umgehen", sagt Unfallforscher Brockmann über das steigende Aggressionspotenzial auf der Straße.
Radler werden als Hindernis gesehen
Ein besonderes Thema beim Zusammenleben auf der Straße ist das schwierige Verhältnis von Autofahrern und Radfahrern. Radkurier Christian Meier kennt das Problem aus seinem Alltag sehr gut. "Ich werde oft angehupt. Eigentlich viele Male am Tag", sagt der Berliner, der auf zwei Rädern sein Geld verdient. "Viele Autofahrer haben noch nicht verstanden, dass Fahrradfahrer auch zum Verkehr gehören." Sie fühlten sich in ihrem Revier gestört, meint Meier. Hinter dem Steuer gehen viele davon aus, dass die Straße ihnen gehöre. Wenn da ein Radfahrer auf der Straße auftauche, dann werde er sofort als Hindernis wahrgenommen. "Radwege sind grundsätzlich gefährlich. Kinder, Hunde, Autotüren – alles kann einen da überraschen. Und die Sicht voraus ist stark verkürzt", erklärt Meier. Deshalb benutzt der Radkurier grundsätzlich die normale Fahrbahn oder die eingezeichneten Schutzstreifen. "Auf Radwegen ist das Risiko, dass was passiert, viel höher als auf der Straße", unterstreicht Meier. Aber die meisten Autofahrer wissen nicht, dass es keine Pflicht gibt, den Radweg zu benutzen. Und deshalb hört der Radkurier viele Male am Tag die akustischen Beschwerden der Automobile um ihn herum. "Natürlich schaukelt sich das auch mal hoch. Aber als Kurier sollte man sich am besten gar nicht darauf einlassen", sagt Meier. Aussagen wie die von Bundesverkehrsminister Ramsauer (CSU), der sich schon des Öfteren zu so genannten "Kampfradlern" äußerte, ärgern den Berufsradfahrer allerdings. Autofahrer begingen mindestens genauso viele Delikte, die weitaus gefährlicher seien und seltener geahndet würden.
Ein Verkehrshindernis ist Christian Meier sicherlich nicht. Der gut durchtrainierte 30-Jährige erreicht im flachen Berlin im Schnitt Geschwindigkeiten um die 30 km/h und kann mit seinem Rad in der Regel gut im dichten Verkehr mitschwimmen. Bei stockendem Verkehr, im alltäglichen Großstadtgewirr Berlins sicher keine Seltenheit, ist er schneller als die Autos. Deshalb hat er auch gelernt sich durchzusetzen. "Das Wichtigste ist, wahrgenommen zu werden." Daher sei das Hupen im Grunde gar kein schlechtes Zeichen, denn es bedeute, dass man gesehen wurde.
Die psychologische Komponente
Das hat sich für Bernd Matthies sicherlich ganz anders dargestellt. Der Journalist ließ sich zunächst durch die Drohgebärden von Thomas L. nicht verängstigen, wollte dem Konflikt nach dem Zwischenfall aber aus dem Weg gehen. Das ist ihm nicht gelungen, weil L. nicht lockerließ. Es gebe Wut und Hass zwischen Auto- und Radfahrer sicher nicht generell. "Aber es gibt fünf bis sechs Prozent an Verrückten, die es persönlich nehmen und auch handgreiflich werden", glaubt Matthies.
Thomas Wagner, Verkehrspsychologe aus Bautzen, erklärt solche Ausfälle zwischen den beiden Parteien ähnlich wie beim Sport: "Das sind sozialpsychologische Gruppenprozesse, die hier stattfinden." Mitglieder einer Gruppe fühlten sich durch Mitglieder einer bestimmten anderen Gruppe schneller bedroht als durch dritte Personen. Betroffen machten den Tagesspiegel-Redakteur dann aber doch die zynischen Kommentare einiger Leser auf die Berichterstattung über den Vorfall. "Weg mit den Radlern" und "Warum ist der Autofahrer immer der Dumme?", war auf der Website des Tagesspiegels zu dem Fall zu lesen.
Es wird immer enger
Unfallforscher Siegfried Brockmann sieht die täglichen Auseinandersetzungen zwischen Radfahrern und Autofahrern naturgemäß etwas nüchterner. Letztlich hänge das Aggressionspotenzial weniger mit dem Verkehrsmittel als mit dem Charakter zusammen. Das bestätigt indirekt Verkehrspsychologe Wagner. "Bei solchen Eskalationsketten liegen meist andere Defizite zugrunde, die sich dann gerade im Straßenverkehr manifestiert haben.“ Wer also ohnehin mit viel Adrenalin unterwegs ist, der wird auch im Verkehr schneller ausfällig. Ob das subjektive Empfinden, dass das Gesamtverhalten im Verkehr tendenziell aggressiver geworden ist, stimmt, kann Wagner nicht bestätigen. "Dazu müsste man eine Datenbasis auswerten", sagt er.
Solche Daten gibt es aber in der Form nicht, denn das Gros der Zwischenfälle läuft unterhalb der Schwelle zur Straffälligkeit ab und wird deshalb selten bekannt. Aber warum wird der Kampf auf der Straße zwischen den beiden Gruppen auf zwei und vier Rädern ausgetragen? Siegfried Brockmann erklärt das folgendermaßen: "Radfahrer sind, ebenso wie Autofahrer, keine homogene Gruppe. Genau der gleiche Kampf, den Radfahrer mit Autofahrern kämpfen, findet auch zwischen Radfahrern statt." Neben der gesellschaftlichen Tendenz zum Individualismus gebe es noch einen anderen Grund für die steigende Kampfbereitschaft auf der Straße. "Die Verkehrsfläche wird immer kleiner und der Raum so auch immer enger." Das führe eben auch zu mehr Stress.
Rollentausch für mehr Verständnis
In diese Richtung zielt auch ein Erklärungsansatz von Radkurier Christian Meier. "Die Menschen beanspruchen einen Sicherheitsabstand um sich herum. Und wenn sie im Auto sitzen, eben auch um ihr Auto." Und wenn den jemand nicht einhalte, dann fühle sich der andere bedroht. Das bedeutet nichts Gutes für die Zukunft des städtischen Verkehrs in Berlin. Denn die Räume werden sich in den einigen Jahren immer mehr Verkehrsteilnehmer teilen müssen, da sind sich alle Studien einig. Ob dadurch auch die Aggression im Straßenverkehr weiter zunehmen wird, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre jedenfalls, dass beide Gruppen künftig mehr Verständnis für die andere Seite aufbringen. Wie es bei Christian Meier der Fall ist, der, seit er als Radkurier unterwegs ist, auch weitaus umsichtiger Auto fährt. "Man kennt die Perspektive von Radfahrern viel besser. Und ich fahre auch deutlich langsamer, weil ich das als Radfahrer sonst als gefährlich empfinde." Daher wäre der Rollentausch möglicherweise ein guter Lösungsansatz. Ein Tag, an dem Radfahrer im Auto unterwegs wären und umgekehrt, könnte schon viel an gegenseitigem Verständnis schaffen. Das wird aber wohl ebenso ein Traum bleiben wie die friedliche Koexistenz auf unseren Straßen.
* Name von der Redaktion geändert
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