Gewalt gegen Frauen: Expertin: Jährlich 6000 Zwangsehen in Berlin
In der Hauptstadt werden jedes Jahr zahlreiche Frauen zwangsverheiratet. Dabei erfahren sie auch immer familiäre Gewalt, berichtet eine Kriseneinrichtung.
Serap (Name geändert) war 16 Jahre jung, als ihr Leben schlagartig aus den Fugen geriet. Die in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Christin wurde vor die Tatsache gestellt, ihren Cousin heiraten zu müssen. Die Entscheidung, offenbar eine Abmachung zwischen Seraps Vater und ihrem Onkel, war bereits acht Jahre zuvor getroffen worden. Es folgten ein dreiwöchiger Aufenthalt in einer Hilfseinrichtung, die Rückkehr nach Hause, Schläge, Tritte und Morddrohungen, ehe sich das Mädchen endgültig vor dem Zugriff ihres Vaters und ihrer Familie in Sicherheit bringen konnte.
Serap ist nicht allein. Im vergangenen Jahr wurden in Berlin 570 Fälle vollzogener oder geplanter Zwangsehen bekannt, 19 Prozent mehr als 2013. Damals hatte die Berliner Arbeitstelle gegen Zwangsverheiratung ebenfalls eine Abfrage unter mehr als 700 Einrichtungen durchgeführt, die Zahl der gemeldeten Zwangsverheiratungen lag bei 460. In Wahrheit jedoch, davon ist Eva Kaiser überzeugt, ist die Situation deutlich dramatischer: „Die Dunkelziffer liegt mindestens beim Zehnfachen der Zahl, der Graubereich ist also maximal etwas aufgehellt“, erklärt die Leiterin von Papatya, einer anonymen Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen in Berlin. Will sagen: In Berlin wurden allein im vergangenen Jahr knapp 6000 Mädchen und junge Frauen gegen ihren Willen verheiratet oder dazu genötigt. Das sind mehr als 15 am Tag.
Keine Zwangsehe ohne Gewalt
Tatsächlich bringt allein Papatya im Jahr rund 60 junge Frauen und Mädchen in Sicherheit, denen in der Familie Gewalt und Zwangsverheiratung drohen. Hinzu kamen im vergangenen Jahr etwa 500 über die Telefonnummer des Jugendnotdienstes vermittelte Beratungsfälle, 250 davon zum Thema Zwangsehe. „Zwangsverheiratung existiert nie allein, sondern immer im Kontext familiärer Gewalt“, betont Eva Kaiser. Die jüngsten der überwiegend minderjährigen Hilfesuchenden seien erst 13 Jahre alt, so die Leiterin der Hilfseinrichtung, die bereits seit 32 Jahren besteht und in der Zeit bis zu 2000 Mädchen vor ihren Familien in Sicherheit gebracht hat. Kaiser Bilanz: „Der Druck auf die Mädchen war schon immer groß und er wird nicht geringer.“
Über die Herkunft der Mädchen und jungen Frauen führt Kaiser zwar keine Statistik, mindestens 90 Prozent der Fälle, schätzt sie, hätten aber einen muslimischen Hintergrund, darunter auch Flüchtlingsfamilien. Betroffen seien aber auch Jesidinnen, Christinnen und in Einzelfällen Jüdinnen. „In 100 Prozent der Fälle leiden die Mädchen unter patriarchaler Gewalt“, erklärt Kaiser. Dass Mädchen selbst über ihr Leben entscheiden können, ist in diesen Familien schlicht nicht vorgesehen.
Flüchtlingsfamilien
Allerdings: Der Mut und das Selbstbewusstsein, sich gegen die häufig gewalttätige Unterdrückung in der eigenen Familie zur Wehr zu setzen, steigt. Gerade bei Mädchen aus Flüchtlingsfamilien, die vor drei oder vier Jahren nach Deutschland kamen, stellt Eva Kaiser eine Veränderung fest. „Sie haben in der Zeit gelernt, dass sie nicht alles ertragen müssen und es Auswege gibt“, erklärt sie. Immer häufiger würden auch sie sich nun an Einrichtungen wie Papatya wenden. Diese stellt den Mädchen in Fällen ernsthafter Bedrohungen eine Unterkunft an geheimer Adresse zur Verfügung und veranlasst die mit den Jugendämtern abgestimmte Suche nach einem sicheren Aufenthaltsort in oder auch außerhalb Berlins. Derzeit sind sieben der acht zur Verfügung stehenden Plätze belegt.
Serap wählte exakt diesen Weg und lebt inzwischen in Sicherheit in einer westdeutschen Großstadt. Den Eltern wurde das Sorgerecht entzogen. Sie hat immer noch Angst vor ihren Eltern, die sie weiterhin suchen und vermeidet jeden Kontakt.
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