40 Jahre Marzahn: Europas größte Plattensammlung
Während der Bauphase lebten die Leute in einer Schlammwüste, genossen aber die modernen Wohnungen. Heute wird der einstige DDR-Vorzeigebezirk wieder beliebter.
Zum Gründungsmythos der Großsiedlung Marzahn gehört eine Betonplatte, natürlich. Verwittert steht sie an der Allee der Kosmonauten und zeigt die Kontur von Peter Zeise. Der Arbeiter einer Montagebrigade soll vor 40 Jahren das Signal gegeben haben für das große städtebauliche Projekt im Osten der Stadt. Die Umrisse der ausgefrästen Figur erinnern zugleich an den Modulor, das Proportionsschema des Architekten Le Corbusier: Das menschliche Maß, es sollte sich harmonisch durch jedes neue Haus ziehen. Am 8. Juli 1977 wurde die erste Platte auf die Felder gesetzt.
Man war weit draußen in Marzahn, das seinen Namen dem mittelalterlichen Dorfkern entlehnt hat. Vor Olympia 1936 hatten die Nazis Sinti und Roma aus Berlin auf ein Feld gebracht, um sie vor der Weltöffentlichkeit zu verstecken. Später wurden die meisten von ihnen von dort aus nach Auschwitz deportiert. Bis zum Bau der Großsiedlung versorgten die Bauern Marzahns Berlin mit Getreide, Gemüse, Milch und Fleisch. Hier wurde 1953 die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Berlins (LPG) gegründet, mit dem bezeichnenden Namen „Neue Ordnung“.
Zeit der Gummistiefel
Die ersten Häuser waren ein knappes halbes Jahr nach dem Beginn der Bauarbeiten bezugsfertig. Als erste Mieter zogen Carola und Gerd Jütte mit ihrer zweijährigen Tochter in einen Zehngeschosser der Marchwitzastraße ein, für 97,50 Mark im Monat. Das Paar wohnt heute noch dort und will nicht weg. Eine „Gummistiefelzeit“ seien die ersten Jahre der werdenden Großsiedlung gewesen, erzählen die ersten Bewohner. Und wer keine hatte, wickelte sich Plastetüten um die Füße, denn der Matsch der Baustellen war überall, die späteren Straßen noch unbefestigte Wege. Die Jüttes, die aus einer Altbauwohnung in Weißensee mit Kohleofen und Klo auf halber Treppe kamen, nahmen gleich ein heißes Bad, das erste ihres Lebens – und waren begeistert. Auch die Kinder der vielen zugezogenen jungen Familien freuten sich an den Baggern und Kränen, immer war was los.
Die DDR baute Kitas, Kinos und legte Bummelmeilen wie die Marzahner Promenade an. Es gab nur wenige Haustypen, die vom Wohnungsbaukombinat Berlin in Marzahn errichtet wurden. Vorherrschend ist die in Dresden entworfene Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) mit bis zu elf Geschossen, gemischt mit Doppelhochhäusern von 21 Etagen. Ab 1984 wurde auch in Hellersdorf gebaut, dort mit etwas mehr Formen, weil alle Kombinate der DDR dabei waren. In nur 15 Jahren entstand die größte Plattenbausiedlung Europas mit 103 000 Wohnungen. Die letzten Baustellen verschwanden erst 1992, also nach dem Umbruch.
Wohnlandschaft aus Beton
Die DDR war stolz darauf, schnell bezahlbaren Wohnraum geschaffen zu haben. Anderswo, so hieß es bei der staatlichen Nachrichtenagentur ADN, „vollzog sich ein vergleichbarer Wandel erst in Jahrhunderten“. Während sie Altbauviertel wie Prenzlauer Berg verfallen ließ, glaubte die Staatsführung mit dem Plattenbau das richtige Mittel gegen die Wohnungsnot gefunden zu haben. Fotos aus der Aufbauzeit inszenieren geradezu den Kontrast zwischen dem Dorf mit seiner kleinen Kirche und der riesenhaften Wohnlandschaft aus Beton im Hintergrund. Der Staat, der sonst oft Spuren der Geschichte beseitigte, ließ das Dorf erhalten, ergänzte es noch mit einer Bockwindmühle, die erst 1994 in Betrieb ging.
Optimismus kehrt zurück
Nach der Wende war schnell vom tristen Plattenbauviertel die Rede, von Arbeitslosigkeit, Leerstand, Verwahrlosung. Häuser wurden abgerissen oder um Stockwerke verkürzt. In den letzten Jahren hat sich die Stimmung verbessert, es ziehen wieder mehr Menschen zu. Und wie überall in der Stadt hat der Mangel an Wohnraum auch in Marzahn-Hellersdorf neue Wohnprojekte in Gang gesetzt. 190 000 Menschen wohnen in den Plattenbauten des Bezirks, der nicht nur wegen der IGA viel grüner als früher ist. Und die meisten leben sehr gerne hier.