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Im Auftrag der Zurückhaltung. Im Zeitalter von Teenie-Schwangerschaften und nackten Hintern im Fernsehen ist unsere Autorin verwundert über die jungen Polen.
© picture alliance / dpa

Katholische Jugendbewegung in Polen: Enthaltsamkeit statt Sex

In Polen haben sich 9.000 Jugendliche in der „Bewegung der reinen Herzen“ versammelt. Ihre Mission: Keuschheit. Was motiviert diese jungen Menschen?

Grzesiek streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und wirft einen kurzen Blick auf sein Handy. Neben ihm sitzt sein Freund Andrzej. Jeans, weißes Hemd, die Haare sorgfältig nach hinten gegelt. Die beiden 25-Jährigen lächeln mich an. Wir haben uns verabredet, um über Sex zu sprechen. Oder besser gesagt: um über keinen Sex zu sprechen. Ich nehme einen Schluck schwarzen Kaffee, der vor mir auf dem Tisch steht.

Grzesiek und Andrzej studieren hier, in Warschau. Beide sind Mitglieder der „Bewegung der reinen Herzen“ (polnisch: „Ruch czystych serc“, kurz RCS). Sie sind im Auftrag der Zurückhaltung unterwegs. Die katholische Jugendbewegung fordert die sexuelle Abstinenz bis zur kirchlichen Eheschließung. Das kostbare Gut der Jungfräulichkeit, so argumentieren sie, soll nur für die eine, richtige Person, aufbewahrt und behütet werden.

Die Bewegung wurde 2003 von den Lesern der katholischen Zeitschrift „Milujcie sie!“ („Liebet euch!“) gegründet, die sich mit der US-amerikanischen Keuschheitsbewegung der 1990er Jahren identifiziert und sich als Antwort auf fortschreitende Sexualisierung der Presse versteht. Grzesiek studiert Journalismus, Andrzej Tourismus biblischer Länder. Beide sind kurz nach dem Abitur in die Bewegung eingestiegen. Grzesiek war damals nach der Schule in Australien. Dort wurde während der Messe die Zeitschrift „Milujcie sie“ ausgeteilt. Beim Durchblättern blieb der damals 21-Jährige bei der Seite mit Erfahrungsberichten hängen. Dort beschrieben junge Menschen, wie die Bewegung ihr Leben verändert hatte. Grzesiek war fasziniert: „Einige fanden ihren Weg aus der Alkohol- oder Drogensucht, andere schlossen endlich mit traurigen Erfahrungen früherer Beziehungen ab und begannen einen neuen Lebensabschnitt.“ Noch in Australien unterschrieb Grzesiek seinen Mitgliedsantrag.

Keine Suchtmittel - nicht mal Kaffee

Die Bewegung ist in allen Teilen Polens lokal organisiert und veranstaltet neben wöchentlichen Treffen regelmäßig Auftritte in Schulen, Gemeinden oder örtlichen Vereinen. Sie wollen immer mehr junge Leute dazu motivieren, die heutige enjoy-life-Mentalität zurückzulassen. Gott und Glaube sollen an erster Stelle stehen. Tägliche Gebete, regelmäßige Beichte. Nicht mehr das hübsche Mädchen verführen oder mit dem coolen Jungen mitgehen. Zusätzlich will RCS möglichst viele junge Menschen von Suchtmitteln „befreien“, dazu gehören Alkohol, Nikotin, Drogen und Pornografie. Ich schaue auf Andrzejs unangerührten Kaffeebecher. „Ich will kein Koffein mehr“ sagt er lächelnd. „Ich will von nichts abhängig sein.“

So entspannt sehen reine Herzen aus. Grzesiek und Andrzej aus Warschau.
So entspannt sehen reine Herzen aus. Grzesiek und Andrzej aus Warschau.
© privat

Ich erzähle den beiden jungen Männern, dass es in Deutschland schwer ist, sich diese Bewegung vorzustellen. Andrzej überlegt kurz und sagt dann: „Ich würde junge Leute aufschreiben lassen, welche Eigenschaften sie sich von ihrem zukünftigen Partner erwarten. Ich garantiere dir, dass die Mädchen aufschreiben werden: treu, sensibel, liebevoll. Und dann würde ich sie fragen: Wie sollen die Jungs aus deiner Klasse leben, um diesen Eigenschaften gerecht zu werden?“ Andrzej streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Blaue Augen, volle Lippen und ein Lächeln wie aus der Zahnpasta-Werbung.

Bloß nichts gegen den Papst

Grzesiek erzählt mir von der Schutzpatronin der Bewegung, dem polnischen Mädchen Karolina Kózkówna. 1914 wurde sie als 16-Jährige von einem russischen Soldaten überfallen, der sie vergewaltigen wollte. Um ihre Jungfräulichkeit zu schützen, floh sie und wurde anschließend ermordet. Grzesiek sagt: „Unglaublich, dass sie sich schon in dem jungen Alter der Bedeutung der Reinheit bewusst war.“ Als ich nichts entgegne, fügt er noch mit Nachdruck hinzu: „1987 wurde sie sogar vom Papst heiliggesprochen.“ Ich lächle schwach. In Polen kann man alles sagen, aber nichts gegen den polnischen Papst. Bloß nichts gegen den Papst.

Die „Bewegung der reinen Herzen“ propagiert neben dem kirchlichen Lebensstil vor allem aber eins: keinen Sex, bevor man einen Trauschein in der Tasche hat. Nur dann wisse man, dass es wirklich Liebe ist, die einen verbindet. „Wenn der Körper das Wichtigste ist, sich aber irgendwann verändert, dann bleibt nichts mehr. Wenn aber das Wichtigste die Person ist, ihre Bedürfnisse und die gemeinsame Beziehung, dann wird der Körper zu einer wunderbaren Bereicherung.“ Grzesiek erzählt weiter: „Wenn man in der Beziehung mit dem Sex bis zur Ehe wartet, lernt man, miteinander Zeit zu verbringen und nicht alle Probleme im zu Bett lösen.“ Grzesiek nimmt immerhin einen Schluck Kaffee. „Man ist nicht immer jung und schön.“ Es klingt floskelhaft, was der junge Pole sagt – aber ich sehe seine aufrichtige Überzeugung. Grzesiek steht hinter jedem Wort, das er sagt.

Ehering abnehmen? "Das ist so beschämend"

Ich frage, ob es wirklich so einfach für die beiden war, damals kurz nach dem Abitur. „Weil etwas leicht ist, ist es nicht unbedingt gut.“ Andrzej grinst. „Dass ich bei RCS bin, heißt nicht, dass ich aufhöre, Gefallen an Mädchen zu finden. Heutzutage ziehen sich Frauen so aufreizend an. Klar ist das verführerisch, klar schalten sich manchmal männliche Regungen ein. Aber das ist natürlich. Wenn du den Wert der Reinheit einmal erkannt hast, weißt du, dass sie gut ist.“ In der „Bewegung der reinen Herzen“ soll es kaum Aussteiger geben. Andrzej und Grzesiek sagen jedenfalls, sie kennen niemanden.

Polen ist bis heute ein sehr katholisches Land. Trotzdem sank die Zahl der praktizierenden Gläubigen in den letzten Jahren stetig. 2006 waren es in Warschau noch 72 Prozent, 2010 nur noch 60. Aus der jungen Generation zwischen 20 und 30 geht nur noch jeder Dritte jeden Sonntag zur Kirche, in den großen Städten wie Warschau, Krakau oder Breslau nur jeder Fünfte. Umso öfter treffen sich die Jugendlichen von RCS. Andrzej und Grzesiek haben mittlerweile kaum mehr Freunde, die nicht Teil der Bewegung sind. Sie sehen sich fast jeden Tag, gucken Fußball, machen Sport oder verreisen. Egal in welcher Stadt sie in Polen sind – ob Krakau, Posen oder Breslau – überall sind Menschen, die sie aufnehmen würden. „Wir sind alle von RCS und alle eine Familie“, sagt Andrzej „Letztens fragte mich ein Arbeitskollege in der Pause: Ich geh Freitag auf ne Party. Soll ich meinen Ehering anlassen oder abnehmen? Auf was, glaubst du, fahren die Frauen mehr ab? Was soll ich dazu sagen? Das ist so beschämend.“

Besser als Sex?

Ich frage die beiden, ob man bei der Bewegung auch eintreten kann, wenn man sein erstes Mal bereits hinter sich hat. „Natürlich!“ sagen sie. Den meisten ergehe es sogar so. „Jungfräulichkeit kann man physisch verlieren, aber im Geiste kann man sich immer verändern. Jedes Leiden lehrt und bereichert den Menschen.“ Andrzej schaut mich aufmunternd an.

Grzesiek und Andrzej sind keine Freaks. Sie wirken weder schüchtern noch verkorkst, sie erzählen viel und lachen gerne. Wenn sie von den jährlichen Besinnungstagen berichten, von dem lauten Singen und dem Tanzen, leuchten ihre Augen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl sei einmalig, sagen sie. Ob das besser ist als Sex? Diese Frage stellen sich die beiden jungen Katholiken aus Warschau gar nicht. Sie glauben fest daran, dass alle jungen Menschen es ihnen nachtun sollten. Und es eben nicht tun.

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Kaja Klapsa, 18

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