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Das Tacheles war für zwei Jahrzehnte der touristische Hauptanziehungspunkt in der Oranienburger Straße. 200 Millionen Euro wurden nun für das Areal geboten.
©  Doris Spiekermann-Klaas

Die Oranienburger Straße: Ende mit Legende

In den Nachwendejahren war die Oranienburger Straße Touristenmagnet erster Klasse, mit dem Tacheles als gruseligem Zentrum. Mittlerweile befindet sie sich in einer Langzeitmetamorphose vom schrägen Künstlerbiotop zum edlen Geschäftsviertel.

Die Oranienburger erwacht spät. Kurz vor elf klappt Thomas Suchlich, schwarz-weiß gekleidet, bärtig, wortkarg, die Lade seines Imbisswagens auf. Seit 15 Jahren steht er hier, um „Tom’s Fritten“ und andere Friteusenklassiker zu verkaufen, doch damit könnte es bald vorbei sein. Schräg gegenüber döst die Tacheles-Ruine in den Tag hinein, ein „Touristenanziehungsmagnet“ erster Güte, sagt Suchlich. Nur leider komplett abgeriegelt und blickdicht zugestellt. Nun bleiben die Tagesgäste aus, die Schauerromantikfans und Gruselkunstliebhaber – „eine Katastrophe“, findet der Imbisswirt.

Die Oranienburger Straße und das Tacheles, eine Symbiose von Weltrang. Kein Reiseführer, der die Kaufhausruine nicht als „unique Berlin“ anpries. Vor 20 Jahren, Anfang der neunziger Jahre, galt die „O-Street“ als der Nabel des neuen Berlin. „Drei Sachen machen den Flair aus“, sagte ein Barmann 1992 dem Tagesspiegel, „der Alkohol, die Nutten und die Kunst.“ Der Alkohol fließt immer noch in Strömen, die Lackstiefeldamen sind auch noch da, nur mit der Kunst ist es vorbei. Im Internet wird die Oranienburger der Post-Tacheles-Ära schon für tot erklärt.

Das sehen Investoren offenbar völlig anders. 200 Millionen Euro würden derzeit bei Verkaufsverhandlungen für die unter Zwangsverwaltung stehende Ruine und die große Freifläche davor geboten, heißt es. Das Sechsfache des Verkehrswertes! Das würde reichen, um die Schulden der Eigentümergesellschaft unter dem Dach der Jagdfeld-Gruppe mit ihrem Chef Anno August Jagdfeld zu begleichen. Der seit einem Jahrzehnt andauernde Stillstand auf einem der größten noch unbebauten Premiumgrundstücke in der Innenstadt wäre behoben. Das Tacheles muss als Kulturstandort erhalten bleiben, egal wie viele Luxusgeschäfte und Penthousewohnungen im Umfeld entstehen sollten, so steht es im Bebauungsplan. Doch was das konkret bedeutet, weiß derzeit niemand.

Der Wegzug der C/O-Galerie zum Bahnhof Zoo hat geschadet

Für die Oranienburger Straße wirkte der Stillstand imageschädigend. Die ihrer Mythen und Legenden aus der Nachwendezeit beraubte Straße befindet sich mitten in einer Langzeitmetamorphose vom avantgardistischen Künstlerbiotop zum edlen Geschäfts- und Einkaufsviertel. Der rumpelige Großparkplatz nebst eingezäunten Brachen im Vorfeld des Tacheles wirkt wie eine offene Wunde, die dem Organismus der Straße die Kraft für diesen Wandlungsprozess raubt.

Mit dem Wegzug der C/O-Galerie aus dem ehemaligen Postfuhramt ist eine weitere Institution der Off-Kultur weggebrochen. Stattdessen zieht hier schwer vermittelbare Hochtechnologie ein. Vor dem Portal hängt ein großes Transparent mit einem Fragezeichen. Die Neuköllner Medizintechnikfirma Biotronik, Weltmarktführer für Herzschrittmacher, plant eine Firmenrepräsentanz, schweigt aber über die genauen Pläne. Im Bauamt von Mitte liegt ein Bauantrag, in dem von einer Nutzung für Schulungszwecke die Rede ist.

Das Postfuhramt steht für die lange Geschichte der Oranienburger Straße als Zentrum des Post- und Fernmeldewesens. Gegenüber steht der hochaufragende Ziegelbau des Fernsprechamtes von 1927. Zusammen mit dem neobarocken vierflügeligen Haupttelegrafenamt an der Monbijoustraße und dem Logenhaus unterhielt die Post hier ein ganzes Quartier, das erst mit dem Ende der DDR seine Bestimmung verlor.

Nebenan entsteht das Forum Museumsinsel - ähnlich wie der Potsdamer Platz

Diese Gebäude sollen in den nächsten Jahren wieder mit Leben gefüllt werden. Geschäfte, Büros, ein „Lifestyle-Hotel“ und Firmenrepräsentanzen sind geplant, aber auch hochwertige Wohnungen. Das zweite große Bauprojekt neben dem Tacheles-Quartier. Das „Forum Museumsinsel“ soll eine gute Adresse werden, ähnlich wie der Potsdamer Platz. Dazu passt die neue Biotronik-Zentrale. Weiter südlich, mit Blick auf den Monbijoupark, sind schon die „Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin“ und der „Berufsverband Deutscher Internisten“ ansässig.

Die Oranienburger hat ihre Seele verkauft, sagen ihre ehemaligen Bewunderer. An Restaurantketten, Hostelbetreiber und das gesellschaftliche Establishment. Von den legendären „Untergrundbars“ existieren nur noch Reste, die trotz allem, oder gerade wegen des Touristenbooms, überlebt haben: Silberfisch, Aufsturz und Meilenstein. Was sich verändert hat? „Eigentlich nichts“, sagt Silberfisch-Inhaber Axel Mayer. Das Publikum von Tacheles und C/O sei nichts seins gewesen. Die Barfrau vom Aufsturz, 1994 gegründet, muss schon etwas nachgrübeln. Die Gäste seien jetzt anders, „weniger schräg“, aber die Straße werde deswegen nicht untergehen. Das Aufsturz liegt zwischen den neuen Hostels, was den Umsatz durchaus befördert.

Die Chefin vom Maskenladen für Faschingsfreunde und Fantasy-Fans gegenüber der Tacheles-Ruine vergleicht die Situation mit Venedig. Der Massentourismus hält eine Stadt am Leben, die aus sich heraus gar nicht mehr lebensfähig wäre. Die „Horden von Spaniern und Italienern“ fielen immer noch in die großen Restaurants und Bars ein. Die Oranienburger war schon anno ’92 eine laute Partymeile, vor der die Anwohner zum Schlafen in die hinteren Zimmer flüchteten.

Seit dem Tacheles-Aus sei es ruhiger geworden, sagt der Betreiber der Gabbana-Lounge. Aber im Sommer würden immer noch täglich Dutzende Geburtstage und Junggesellenabschiede gefeiert, von waschechten Berlinern.

Der Maskenladen wirkt wie die ideale Ergänzung der dunklen Gruselruine vis-à-vis. Vor zwölf Jahren zog man hier ein, wegen der günstigen Miete, erzählt die Chefin. Rasant gewachsen sei das Geschäft aber vor allem im Internet, unabhängig vom Tacheles. Jetzt zieht der Laden an den Hackeschen Markt, um seinen Showroom vergrößern zu können. Das Haus wird ohnehin saniert, die Mieter vermuten einen Umbau zum Hotel.

Die Oranienburger wird auch künftig ein Flanierviertel sein, mit teuren Wohnungen und Designergeschäften, aber etwas weniger Ballermann-Partys. Das Tacheles wird eine ideale Kulisse für den Kunstkommerz bleiben, weniger autonom und beliebig, aber genauso bunt, alles andere würde in diesem Haus keinen Sinn machen. Die Räumung des ehemaligen „Kunsthauses Tacheles“ richtete sich nicht primär gegen die Künstler, sie sollte vor allem den Kaufpreis nach oben treiben. „Profitmaximierung“ schimpften die Betroffenen und waren selbst doch ein Teil davon. Jagdfelds Leute wussten genau, was sie an der Immobilie und ihren störrischen Bewohnern hatten: „Die Ruinenbewirtschaftung macht das Gebiet für die Zukunft attraktiv“, sagte ein Jagdfeld-Sprecher im Jahr 2001. Das scheint so weit gelungen.

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