Ein Vormittag im Altersanzug: Einmal Seniorin und zurück
Wie fühlt es sich, 75 zu sein? Unsere Autorin hat es ausprobiert – mit dem Altersanzug „Age Man“ in einer speziell eingerichteten Wohnung in Marzahn.
Gebrechlich, vergesslich, hilfsbedürftig: Die Aussichten aufs Alter sind nicht besonders rosig. „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, das soll Bette Davis gesagt haben. Joachim Fuchsberger nahm das Zitat gleich als Motto für seinen 2011 erschienenen Ratgeber. Und Vicco von Bülow alias Loriot befand sogar: „Altwerden ist eine Zumutung.“
Ist das wirklich so? Und vor allem: Muss das so sein? Das will ich herausfinden. Der Plan: Ich werde alt – und versuche, es mir so leicht wie möglich machen zu lassen, mit allem, was Industrie und Technik bieten. Ich werde einen Vormittag als 75-Jährige verleben, mithilfe des Alterssimulationsanzugs „Age Man“ des Meyer-Hentschel-Instituts in Saarbrücken. Und zwar in der „Ermündigungswohnung“, einer Musterwohnung in Marzahn. Wissenschaftlich begleitet vom Institut für Telematik der Technischen Hochschule Wildau wurde sie vom Orthopädietechnik- und Sanitätswarenunternehmen OTB konzipiert. Sie ist ausgestattet mit allem, was alternden Menschen helfen soll, den Alltag zu bewältigen und möglichst lange selbstbestimmt zu leben – von modernster Technik bis zur klassischen Leselupe.
Am Tag meiner Instant-Alterung stimme ich auf dem Weg nach Marzahn – genervt, gestresst – Loriot zu: Ja, Alter kann tatsächlich eine Zumutung sein. Für die Nichtalten. Denn als ich mir am U-Bahnhof noch schnell ein Ticket kaufen will, steht in der Schlange vor mir eine weißhaarige Frau. Die ziemlich umständlich und langsam ihr Portemonnaie aus der Handtasche und dann Kleingeld aus dem Portemonnaie nestelt. So umständlich und langsam, dass ich die Bahn verpasse. Und viel zu spät komme.
Ein paar Stunden später entlarve ich mich als Feigling. Das Altsein macht mir richtig Angst. Und trotzdem gibt es immer mehr Menschen, die sich in das „Abenteuer Alter“ stürzen, das zudem immer länger wird: Die Lebenserwartung der Deutschen steigt stetig, wer heute zur Welt kommt, wird durchschnittlich 78 (Männer) und 83 Jahre (Frauen) alt. Aktuell stellen die mindestens 65-Jährigen ein Fünftel der Bevölkerung. 2060 soll jeder Dritte 65 Jahre oder älter sein, jeder Achte mindestens 80 Jahre. Stärker beachtet wird dieser demografische Wandel erst, seit mit den Babyboomern die geburtenstärksten Jahrgänge ins Alter kommen, was den Pflegenotstand verstärkt. Zudem stellen die 65- bis 74-Jährigen eine der vermögendsten Bevölkerungsgruppen. Sie legen Wert auf ein selbstbestimmtes Leben. Das schafft einen Markt für Hilfsmittel und Assistenzsysteme aller Art.
Wurde der Kühlschrank zu lange nicht mehr geöffnet, ertönt ein Alarm
Über 100 davon von mehr als 50 Unternehmen sind in der „Ermündigungswohnung“ versammelt. Seit 2014 steht sie Besichtigungen offen. 140 Quadratmeter, sechster Stock Plattenbau, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, zwei Bäder, alles hell und freundlich – und ausgestattet mit nützlichen Dingen. Eine Tasse mit Aussparung für die Nase, damit man austrinken kann, ohne den Kopf in den Nacken legen zu müssen. Ein Sessel, der sich nach vorne kippen lässt, um beim Aufstehen zu helfen. Ein Herd, der sich selbst ausschaltet, wenn ein Sensor keine Aktivität mehr feststellt. Oder intelligente Systeme, die die Heizung danach regulieren, wann welche Räume genutzt werden. Und registrieren, wenn die Kühlschranktür zu lange offen steht oder schon zu lange nicht mehr geöffnet wurde. Dann schlagen sie bei Angehörigen oder einem Pflegedienst Alarm.
Ambient Assistant Living (AAL) nennt sich das Konzept, das dem Wunsch vieler älterer Menschen nach Eigenständigkeit und Sicherheit entgegenkommt, gleichzeitig pflegende Personen entlastet und Pflegekosten senkt. Dafür erfordert es jedoch recht hohe Anfangsinvestitionen: Eine Wohnung umfassend umzurüsten, kostet mehrere 10 000 Euro. Aber: „Natürlich braucht nicht jeder alles“, sagt Anja Schlicht von OTB. „Man kann sich alles anschauen, ausprobieren und dann entscheiden, was den eigenen Bedürfnissen entspricht.“ Sie lässt uns jetzt alleine. „Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause!“
Na dann mal los: Auf ins Alter. Dafür ist Johanna Rönisch-Apel zuständig, die Schulungen und Workshops mit dem Age Man leitet. „Natürlich kann der Anzug das Alter nicht exakt abbilden, dafür ist es viel zu individuell und vielschichtig“, sagt sie. Zudem altere man ja über einen langen Zeitraum, könne sich also daran gewöhnen. „Der Age Man kann aber die allgemeinen körperlichen Veränderungen simulieren, die auf uns zukommen.“ Gelenke werden steif, Muskelkraft lässt nach. „Ab 65 Jahren ist sie 35 Prozent geringer als in jüngeren Jahren.“ Auch die Feinmotorik nimmt ab, und zwar da, wo man sie braucht: in Händen und Fingern.
Ich bekomme Manschetten um Ellenbogen- und Kniegelenke, damit ich sie nicht mehr so gut bewegen kann. Dann reicht Rönisch-Apel mir lächelnd die Hose. „Schließlich wollen Sie sich als alte Frau auch alleine anziehen.“ Stimmt natürlich, ist aber gar nicht so einfach, wenn man die Knie kaum beugen kann. Und sieht wahrscheinlich auch alles andere als elegant aus. Als ich dann wieder in meine Schuhe schlüpfe, kann ich mich jedenfalls nur beglückwünschen, dass ich die mit dem Reißverschluss angezogen habe und keine Schnürschuhe. Jetzt nur noch Hemd und Handschuhe, fertig ist der altersgebrechliche Körper. Neben den Gelenkmanschetten trage ich – eingenäht in Jacke und Hose – zehn Kilo mehr herum, die Finger stecken in Handschuhen, das Innenfutter pikst und reduziert das Fingerspitzengefühl erheblich.
Alles, was ich tue, ist jetzt anstrengend. Und es dauert länger
Dann bekomme ich große Kopfhörer auf die Ohren und einen Helm mit gelb eingefärbtem Visor. „Ab 65 hat jeder Fünfte Probleme mit dem Gehör“, sagt Rönisch-Apel. Vor allem die höheren Frequenzen seien schwierig. Ich schaue sie an: „Wie bitte?“ – die Kopfhörer funktionieren. Wie die Folie vorm Gesicht: Sie soll das abnehmende Farbsehen simulieren, außerdem die sogenannte Presbyopie, die Alterssichtigkeit, die ab 45 Jahren einsetzt. Das Sichtfeld ist geteilt: unten der unscharfe Nahbereich, oben der schärfere Fernbereich. So ausgestattet mache ich mich auf den Weg durch die Wohnung. Meine ersten Schritte als 75-Jährige.
Sie sind anstrengend, wackelig. Und führen mich zuerst ins Schlafzimmer. Lichtleisten weisen den nächtlichen Weg zum Bad. Vor dem Doppelbett liegt eine Fußmatte, die bei Belastung Alarm auslöst: falls jemand aus dem Bett gefallen ist oder eine demente Person häufig nachts aufsteht und herumirrt. Die Matratze lässt sich in alle gewünschten Liege- und Sitzpositionen verbiegen, schwenkt um 90 Grad und entlässt einen auf Wunsch in die Vertikale. Eigentlich praktisch. Dauert aber ziemlich lange. Zu lange, denke ich, wenn man mit Blasendruck erwacht und schnell auf Toilette muss.
Wirklich sicher fühle ich mich nicht, als sich die Matratze in Bewegung setzt. Ich kann mich nirgendwo abstützen oder festhalten. Gut, dass mein 75-jähriger Körper so viel Hilfe eigentlich gar nicht braucht. Das kann er schon noch alleine, es ist nur viel anstrengender. Und dauert viel länger. Das gilt für so ziemlich alles, was ich tue: Es ist anstrengend. Und es dauert. Trotz der Produkte, die ich um mich habe. Ich kann Hemdknöpfe nur schwer greifen, sie rutschen mir aus den Fingern; auch die Löcher finde ich nur schwerlich. Es mag an fehlender Übung im Altsein liegen. Aber ich komme mir ziemlich unbeholfen vor, ungeschickt. Und bin zunehmend von mir genervt. Es ist tatsächlich eine Zumutung. Und Dinge wie ein Geschirrspüler auf Brusthöhe können daran nur begrenzt etwas ändern. Die eingeschränkten Fähigkeiten des eigenen Körpers können sie nicht ersetzen. Und genau das ist es ja, weswegen man sich im Alter unwohl fühlt. Unsicher. Und weswegen Altsein zumindest aus mir einen Feigling macht.
Manchmal spricht mich die Technik direkt an: „Bitte nehmen Sie Ihre Medikamente!“ ist von der „Kommandozentrale“ des intelligenten Wohnungsnetzwerkes zu hören. Eigentlich sehr praktisch, so eine Erinnerungsfunktion. Aber auch befremdlich, wenn Gesundheit und Wohlbefinden so stark von Technik abhängen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das will. Vor allem, weil Netzwerke anfällig sein können, sensible Daten vielleicht nicht wirklich sicher sind – und die Technik immer mal spinnt. Allerdings: Wenn ich eines Tages tatsächlich vor der Entscheidung stehe „Smart Home oder Pflegeheim?“, bewerte ich das womöglich anders. Ich bin froh, dass es noch nicht so weit ist. Dass ich das Alter einfach wieder ausziehen kann. Als ich das tue, fühlt es sich tatsächlich an wie eine Verjüngungskur. Eine Befreiung.
Auf dem Heimweg, in der Tram: Rushhour, viele Schüler, wenig freie Plätze. Ein alter Mann steigt ein, Oberkörper gebeugt, wackelig auf den Beinen. Ein Schüler steht auf, übergibt seinen Platz. Der Alte setzt sich mühsam, lächelt. Der Schüler lächelt zurück. Ich lächle auch. Das Alter mag eine Zumutung sein. Trotzdem reichen manchmal wohl schon Kleinigkeiten, um es zumutbarer zu machen.
Die Ermündigungswohnung befindet sich in der Meraner Straße 7 in Marzahn, Tel. 0800 800 48 44. Sie ist geöffnet Di 10-12 und Do 15-17 Uhr. Informationen: www.ermuendigung.de. Ums Älterwerden geht es auch in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Tagesspiegel Gesund“. Es kostet 6,50 Euro und ist erhältlich im Zeitschriftenhandel oder im Tagesspiegel-Shop unter Tel. 29021-14520, www. tagesspiegel.de/shop.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität