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Bäuchlings bergab. Marco Tschirpke hatte eigentlich auf eine grüne Wiese gehofft, das hätte er lustiger gefunden.
© Kitty Kleist-Heinrich

Spaziergang im Volkspark Friedrichshain: Eine Rodelei mit Marco Tschirpke

Marco Tschirpke ist Musikpoet mit Hang zum Kalauer – und neuerdings auch Kleinkunstpreisträger. Eine Schlittenrunde im Friedrichshain.

Darauf läuft es dann also hinaus. Da ist man zwei Stunden lang spaziert, hat über Schubert und Hugo Wolf philosophiert, über Maulbeerbäume und Spielplatzbau, über Gentrifizierung und den alten Fritz – und am Ende hängt dieser Satz in der Luft. „Timing ist keine Stadt in China“, sagt Marco Tschirpke und es dauert einen kleinen Moment bis dieses zarte, freche Grinsen seinen Mund umspielt, bis man kapiert, dass das ein Witz war. So verkopft er ist, so virtuos sein Klavierspiel, so schlau seine Texte – im Zweifel entscheidet sich Marco Tschirpke immer für den Kalauer.

Wobei die Sache mit dem Timing schon ein bisschen unheimlich ist. Als der damals frisch verkündete Träger des Deutschen Kleinkunstpreises zwei Monate zuvor einer „Spaziergängelei“ im Volkspark Friedrichshain zugestimmt hatte, folgte die verwegene Idee, es könne möglicherweise eine „Rodelei“ werden. Wenig Hoffnung am anderen Ende, schließlich ist der Schneefall in Berlin ähnlich zuverlässig wie eine Flughafeneröffnung. Nun aber, an diesem sonnig-kalten Vormittag kommt Marco Tschirpke, 43, Kabarettist, Musikpoet, Bestseller-Autor, tatsächlich mit einem Schlitten angefahren. Weil das bisschen Schnee, das in der Nacht gefallen ist, hier an der Danziger Ecke Paul-Heyse-Straße, natürlich längst wegmotorisiert ist, transportiert er das Gefährt mit einem Buggy. Zwei Bälle und jede Menge Krümel deuten darauf hin, dass der Wagen regelmäßig anderes transportiert und Tschirpke, schwarze Daunenjacke, graue Mütze, dicke Handschuhe, sieht aus wie einer, der schnell rauswollte und die Kinder zu Hause vergessen hat.

Ach, dieser Schnee, zetert er gleich los. Er hatte sich das alles doch so schön überlegt. Er, der Schlitten und die grüne Wiese, darunter sein Gedicht „Berliner Winter“:

Kein Schnee, nur Rauhreif deckt das Land

Es ist zum Mäusemelken

Zehntausend Schlitten stehn im Schrank

Um vor sich hin zu welken

Das Zimmer ziert, noch ungeheizt

Ein alter Kachelofen

Wer jetzt ‘nen Schlitten hat, der braucht

Das Brennholz nicht zu koofen

Dann also mit Schnee, auch egal, aber warum eigentlich hier? Faulheit, sagt er, schließlich wohnt er oben an der Tramhaltestelle. Und der Volkspark ist eben der Ort, den er am besten kennt: Unendliche Runden hat er hier gedreht mit den zwei Söhnen, zwei und vier, die ihm das Kapitel III („Brut und Pflege“) seines gerade erschienenen Buches „Empirisch belegte Brötchen“ quasi in den Block diktiert haben. Sein 7. ist es bereits, dazu sechs CDs, dass das vorige Buch, „Frühling, Sommer, Herbst und Günther“ zum „Spiegel“-Bestseller wurde, hat ihn unvorbereitet getroffen, im Grunde aber auch wenig verändert, sagt er. Seit 15 Jahren ist er in Berlin, fast immer in Friedrichshain – Hauptsache Osten, sagt der Rathenower – und seit 15 Jahren steht er auch auf der Bühne, die immer mehr Ergebnis als Ziel gewesen ist.

Tschirpke und sein Gefährt sind einen Schritt voraus, er hat sich schließlich einiges überlegt. Duft- und Behindertengarten, liest er vor, „der heißt wirklich so“, große Freude. Wohl wegen der flachen Kräuterrabatten, an die man auch mit Rollstuhl heranfahren könne. Er stößt die flache Metalltür mit dem Buggy auf und marschiert direkt zur Büste „Mutter mit Kind“, oder wie es auf der verwitterten Tafel heißt: „utter i Ki“, zumindest die Blindenschrift scheint intakt. „Quizfrage: Woraus ist diese Dame gemacht?“ Marco Tschirpke, Kleinkünstler mit Kunstanspruch. Dunkelgrau ist sie, wetterversehrt, passenderweise hierher versetzt, direkt vor die Mauer zum Kreißsaal des Klinikums im Friedrichshain, in dem auch seine beiden Söhne zur Welt kamen. Im Sommer drehen hier werdende Eltern genervt ihre letzten Runden. Tschirpke und seine Frau sind zu Fuß rübergelaufen, beide Male, er wollte die Sache sportlich angehen, sie fand das nicht so lustig. Aber hey, wenn man einen Komiker heiratet...

„Das Ding ist aus Marmor“, doziert der Schlaumeier und versucht die Arroganz raushängen zu lassen, mit der er gern kokettiert, wirkt aber doch irgendwie immer sympathisch. Die Büste war also mal weiß, doch „niemand kümmert sich um sie“, völlig verwahrlost, nur unter dem Rockzipfel, geschützt vor der Witterung, kann man den edlen Anblick von einst noch erahnen. Für ihn ist die Büste nicht nur ein Symbol für die heruntergekommenen Ideale der Kaiserzeit, sondern auch Ausdruck des eigenen Scheiterns: Er kriegt das Gedicht über sie nicht hin. Eine Mutter, ewig jung – aber sie altert eben doch, wenn man sie vernachlässigt. Was will der Autor uns damit sagen? Er weiß es nicht, das ist ja das Problem. „Dass junge Frauen altern? Das ist doch total Banane.“

Alltagsbeschreibungen, subtil, oft böse, mehr poetisch als komisch – und kurz. Tschirpke hat die Lapsuslieder erfunden: rund 30 Sekunden, eine Pointe, bloß kein Refrain. Er hasst Wiederholungen, und das merkt man sofort: Die Frage, warum eigentlich, scheint ihn unglaublich zu langweilen. „Einerseits kriege ich nichts Längeres hin“, sagt er dann, witzig-professionell. Andererseits will er schnell auf den Punkt kommen. Andere arbeiten mit Redundanzen, um Atmosphäre zu erzeugen, „da habe ich immer das Bedürfnis, das zusammenzukürzen.“ Er wolle das Publikum nicht unterfordern und..., er schaut sich suchend um, nicht viel los heute. Ein Hund läuft vorbei, schwarzer Schnauzer, rotes Halstuch. „Da! Wenn ich nur sagen will: ,Der Hund hat ein rotes Halstuch‘, dann brauche ich ja nicht so ein Brimborium darum zu machen.“

Er futtert sich durch den Park: Obstbäume überall

Mann mit Marmorstatue: Marco Tschirpke vor der Büste "Mutter mit Kind". Das Gedicht über sie kriegt er einfach nicht hin.
Mann mit Marmorstatue: Marco Tschirpke vor der Büste "Mutter mit Kind". Das Gedicht über sie kriegt er einfach nicht hin.
© Kitty Kleist-Heinrich

Also schnell weiter, kurz runter zum kleinen Teich, der einsame Graureiher („offenbar zu faul für die lange Reise in den Süden“) stolziert übers Wasser, Tschirpke grüßt freundlich, wuchtet dann seinen Wagen direkt über die weiße Wiese zum alten Fritz, „noch so ein verkorkstes Denkmal“. Dann weiter vorbei am Bachlauf, wo im Sommer halligalli ist, heute ist niemand da außer den üppigen Trauerweiden am großen Teich, „manche mit Frisör, manche ohne“.

„Ach so: Ich kenne natürlich alle Baumarten“, fällt ihm da ein, „allerdings nicht im Winter“. Am großen Teich geht es rechts zum Restaurant Schoenbrunn, Terrasse mit Ost-Charme, heute geschlossen. Tschirpke war noch nie drin, er hält an der Weggabelung, zeigt auf einen Maulbeerbaum. „Die Früchte sind süß und lecker“, sagt er, „weiß nur niemand, dass man die essen kann.“ Der Obstgedanke stehe im Park schließlich nicht im Vordergrund. Gleich daneben: Mirabellen! Kornelkirsche, rote und gelbe Pflaumen – er kennt hier jeden Obstbaum. Im Sommer hat er großen Spaß daran, seine Kinder das Obst futtern zu lassen, besonders hier am Hauptweg zum Spielplatz, „kann man richtig was hermachen“, sagt er grinsend. Verwirrte Spaziergänger, leicht panische Mütter: „Die Mutter sorgt sich ja auch ums andere Kind“, sagt er, „vor allem, wenn ein Vater wie ich dabei ist.“

Eine Kitagruppe, gelbe Warnwesten, rennt in Richtung Indianerspielplatz. Eigentlich, sagt Tschirpke, brauche man das alles doch gar nicht. „Für Kinder ist der ganze Park ein Spielplatz, alles ist Spielzeug.“ Spielplätze würden im Grunde für Erwachsene gebaut, wie eine Spielkulisse, die gewisse Erwartungen erfüllen muss. Auf einer Bank schmilzt ein kümmerlicher Schneemann seinem Ende entgegen. Nein, das sei ja alles völlig in Ordnung, sagt Tschirpke dann, ernsthaft: Tolle Rutsche, viel zu Klettern und ein Zaun drum, nur: Was sollen die Holzpferde? Eins kippt nach vorn, eins zur Seite und eins steht einfach nur so rum. „Es wirkt total niedlich, aber es sind immer die Erwachsenen, die die Kinder auf die Pferde setzen.“

Er hat so einen wiederkehrenden Traum von einem riesigen, schwarzen Pferd, auf dem er fliegt. Vielleicht schreibt er deswegen ständig Pferdelieder und -gedichte, meist böse. „Eltern, die Töchter haben, sind häufig sehr dankbar“, sagt er. „Sie kommen nach Auftritten zu mir und sagen: Hahahaha, gibt’s das auch auf Platte?“ Das seitliche kippende Pferd könne einen ähnlichen Effekt haben.

Na gut, noch schnell rüber zum Märchenbrunnen, dessen Figuren nun in überdimensionierten Vogelhütten überwintern. „Ich finde, der Brunnen gewinnt sehr dadurch“, sagt Tschirpke, kein Fan der Biedermeier-Ästhetik. Dann lieber zurück, schließlich muss er noch den Rodelberg runter, wenn der Schnee jetzt schonmal da ist. Auf dem Bauch, wie sonst. Es rutscht erstaunlich gut.

Am 18. Februar wird der Kleinkunstpreis verliehen, Fernsehaufzeichnung, große Sache. Er freut sich besonders auf den Flügel. „Da kann ich mal wieder richtig üben.“ Zu Hause kommt er ja zu nichts, die Familie und überhaupt, „richtig gearbeitet hab’ ich schon seit Jahren nicht mehr.“ Man weiß ja, was das heißt: Er schreibt überall, immerzu, „meist sind es aber To-Do-Listen“. Texte sowieso, aber auch Noten-Steno, einfach so, im Zug zum Beispiel. „Schade nur, dass man jetzt so schnell in München ist.“

Wenn ihm doch nur jemand einen Sack Zeit schenken würde, könnte das alles noch viel besser sein, sagt er noch, er hat schließlich Tonsatz und Klavier studiert, seine Akkordstrukturen sind ihm zu schlicht, das Klavierspiel auch mehr Schein als Sein. Merkt aber zum Glück niemand.

Direkt vor seiner Haustür fängt es an zu regnen, ein veritabler Wolkenguss. Der Schnee wird nun nicht mehr gebraucht. Und Timing ist eben keine Stadt in China.

„Empirisch belegte Brötchen – Gedichte & Geschichten (in überwiegend komischer Manier)“, ullstein, 176 S., 12 Euro. Mit dem gleichnamigen Programm ist er am 2. & 3. Februar im Mehringhoftheater, Gneisenaustr. 2a, Kreuzberg, 25 €, erm. 20 €.

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