Obdachlosigkeit in Kreuzberg: Eine Nacht in der Notunterkunft
Nudeln mit Tomatensoße, um 5 Uhr aufstehen, eine Schlägerei und garantierte Anonymität: in einer ehemaligen Schule in Kreuzberg können Obdachlose übernachten.
Der Regen weicht den matschigen Weg weiter auf. Neben einer Pfütze wartet ein junges Pärchen vor einer Metalltür. Die beiden sehen mit ihren Koffern und Taschen aus wie Hotelgäste. Saubere Kleidung, gepflegtes Äußeres, Skater-Klamotten, Cappi, Turnschuhe.
Sie warten darauf, dass die Pforte der Notunterkunft für Obdachlose in der Ohlauer Straße in Berlin-Kreuzberg öffnet. Um Punkt 19 Uhr schließen Johannes Näumann und Dietrich Heuer von den Johannitern zusammen mit zwei Männern von einer privaten Sicherheitsfirma die Tür auf.
Michael und Miriam sind schnell drin im warmen Hauseingang und „checken ein“: sie bekommen dieselben Betten wie am Tag zuvor. Michael beschwert sich: in der letzten Nacht sei plötzlich ein Mann in das Zimmer gebracht worden – er habe ekelige Geräusche von sich gegeben. Unterkunftsleiter Heuer erklärt: Die Kältebusse fahren nachts herum und bringen Obdachlose zur Notunterkunft. Diese sei eigentlich nach 22 Uhr geschlossen, nur die Sozialarbeiter der Kältebusse können noch Gäste vorbeibringen.
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Michael winkt ab: so sei das eben. Dann lacht er glücklich: sie hätten nun wieder eine Wohnung gefunden, morgen schon würden sie einziehen können. Sie verstauen ihren Besitz in einer Kiste, übergeben diese samt Gepäck dem Sicherheitspersonal. Das soll verhindern, dass Sachen aus den Zimmern geklaut werden und Drogen mit in die Unterkunft genommen werden.
Michael und Miriam kämen seit zwei Wochen in die Notunterkunft, erzählt Näumann. Mehr wisse man nicht über sie und man hinterfrage es auch nicht. „Hier steht niemand vor der Tür, der dafür keinen Grund hätte.“ Michael und Miriam essen schnell und liegen dann auch schon im Bett, es ist 20.30 Uhr. Wer schläft, soll nicht mehr gestört werden, sagt Heuer.
Als nächstes checken Luis und Marco ein. Ebenfalls gepflegtes Erscheinungsbild, saubere Klamotten, Bärte, Brillen. Die beiden Freunde haben noch nie auf der Straße übernachtet. Vor zwei Wochen, so erzählen sie, mussten sie raus aus ihrer Wohngemeinschaft. Ihre Vermieterin habe illegal zwischenvermietet, der Hauptmieter habe sie sofort rausgeworfen. Zudem hätten sie beide vor Kurzem ihre Arbeitsstelle verloren, sie sind ausgebildete Hotelfachmänner, haben an Rezeptionen gejobbt.
Acht Betten, drei Stühle, ein Tisch und ein Jesuskreuz
„Es kann jeden treffen. Es kann von 100 auf 0 gehen“, sagt Luis. „Wir wussten nicht, was mir machen sollen. Aber in Berlin findet man leicht Ansprechpartner und Anlaufstellen.“ Den Tag verbringen sie in Tagescafés für Obdachlose, schreiben dort Bewerbungen, erzählt Marco. Nachts sei es gut hier in der Notunterkunft: Man könne duschen, essen und in Ruhe schlafen.
Ein Raum mit acht Feldbetten, einem Tisch, drei Stühlen und einem Jesuskreuz an der Wand. In dem hinteren Bett zieht sich ein älterer Mann aus, hat Schwierigkeiten mit der nassen Hose, legt sich hin und zittert. Marco liest noch ein Buch, ein Fantasieroman, Luis geht rauchen. Das ist nur vor der Tür, nicht in der Unterkunft erlaubt.
Ob die Geschichten, die hier erzählt werden, stimmen, ist unklar. Seinen richtigen Namen nennt niemand. Neben der Unterkunft in der Ohlauer Straße 22 ist eine Geschäftsstelle von Fixpunkte e.V.: „Gesundheitsförderung und Kriminalitätsprävention für illegal Drogengebrauchende in Berlin.“
In der Notunterkunft gibt es klare Regeln: Essen nur bis 22 Uhr, um 23 Uhr ist Nachtruhe, kein Alkohol und keine Drogen im Haus, Aufstehen um 5 Uhr, dann Frühstück. Warum so früh? Eine Notunterkunft dürfe nur 12 Stunden geöffnet haben, erklärt Heuer. Man habe sich für Öffnungszeiten von 19 bis 7 Uhr entschieden, um früh am Abend zu öffnen und morgens noch zwei Stunden Zeit für Frühstück und Dusche zu bieten. Frauen und Männer schlafen getrennt auf den drei Etagen mit 34 Plätzen für Frauen und 66 für Männer.
Selten ist die Unterkunft ausgebucht. An diesem Wochentag im Februar kommen 43 Gäste, darunter vier Frauen. Auch Hunde sind in der Unterkunft erlaubt: Zehn Plätze stehen zur Verfügung. Einige Gäste erscheinen sichtlich zugedröhnt an der Unterkunft oder nehmen ihre Drogen unweit vom Eingang. Vor der Tür liegen leere Wodkaflaschen. Ein junger Mann hat Probleme, seine Tasche in die Kiste zu bekommen und flucht.
Alles, was die Gäste besitzen, müssen sie in eine Kiste verstauen und dem Sicherheitspersonal übergeben – unter der Garantie, das nichts kontrolliert wird oder verschwindet. Sie dürfen unter Aufsicht an ihre Kisten und die Unterkunft zu jeder Zeit verlassen. Wenn sie zurückkommen, werden sie erneut durchsucht.
„Ich bin deutsch, aber kein Deutscher“
Bei ihrer Ankunft werden die Gäste nach Nationalitäten geordnet. Unterkunftsleiter Heuer fragt jeden Neuling, wo er herkommt. „Palästina“, sagt ein Mann, der sich als Achmed vorstellt. In der Unterkunft wird fast ausschließlich geduzt. Heuer erläutert Achmed die Hausregeln und teilt ihm ein Bett zu. Man müsse aufpassen, welche Nationalitäten man in einem Raum stecke, meint Heuer. Tschetschenen und Russen zum Beispiel.
Nur sehr wenige Gäste seien deutsch. „Ich bin deutsch, aber kein Deutscher“, sagt Andrej, der ins polnische Zimmer quartiert wird. Mit ihm übernachten dort einige Gastarbeiter, Tagelöhner, die in Arbeiterkleidung erschöpft in die Unterkunft kommen. „Wir bieten hier Schutz und Wärme, egal woher und aus welchem Grund unsere Gäste kommen“, sagt Heuer, der jeden von ihnen mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Noch bis Ende April, dann ist die Kältehilfesaison vorbei.
Außer der Nationalität wird nichts gefragt, kein Ausweis kontrolliert, keine Daten erfasst. Die Leute können einen Namen nennen, unter dem sie in der Unterkunft registriert werden. Ein junger Mann aus Guinea nennt sich „Kartoffel“, er kommt seit drei Wochen jeden Tag, fühlt sich hier wohl. Viele Obdachlose hingegen wollen nicht in Notunterkünfte, weil sie Angst haben, dass sie kontrolliert, gemeldet oder sogar verhaftet werden.
Manche von ihnen werden vielleicht gesucht, müssen eine Strafe zahlen, vor Gericht erscheinen. Anderen wurde vielleicht eine Abschiebung angedroht, ihr Status ist ungeklärt oder sie wurden niemals als Person in Deutschland erfasst, verfügen über keinerlei Dokumente. In der Kreuzberger Notunterkunft ist Anonymität garantiert. Es soll ein „geschützter Raum“ sein, sagt Näumann. Ob das anderswo auch so gehandhabt wird, kann Näumann nicht sagen. Das Ausmaß der Kontrollen legen die Unterkünfte selbst fest.
Kein Postkasten voll mit Rechnungen mehr
Peter, 55 Jahre alt, genießt diese Anonymität. Er hat sich verschuldet, war lange arbeitslos, seine Wohnung wurde geräumt. Nun habe er keinen Postkasten mehr voll mit Rechnungen, genieße das Gefühl, nicht zu wissen, was morgen sein wird. Geld vom Amt bekommt er nicht. Tagsüber macht er Gelegenheitsjobs, die er im Internet findet: Malerarbeiten, Umzüge, Entrümpelungen, Ikea-Schränke aufbauen.
Im Sommer schläft er draußen in einem Zelt. Neulich hatte er eine Rippenfellentzündung und wurde beim Arzt abgewiesen, weil er keine Dokumente hat. In der Notunterkunft konnte ihm geholfen werden – einmal in der Woche kommt ein Arzt.
Ein Mann steht blutend im Treppenhaus
An diesem Tag ist der Arzt nicht da. Deswegen muss ein Krankenwagen gerufen werden, als ein älterer Mann mit einer stark blutenden Kopfwunde im Treppenhaus steht. Die zwei Mitarbeiter vom Sicherheitsdienst eilen in das Mehrbettzimmer, holen einen jungen Mann heraus.
Es hatte Streit gegeben, um ein Bett oder darum, ob das Licht ausgeschaltet wird. Der jüngere, neu in der Unterkunft, wolle sich nicht sagen lassen, was er zu tun habe, ruft er und geht freiwillig. Er gibt zu, den anderen geschlagen und über einen Tisch geworfen zu haben.
Heuer erteilt ihm permanentes Hausverbot – das Zwölfte in dieser Saison. Eine Anzeige wird nicht erstattet. Es ist erst das zweite Jahr für die Notunterkunft in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule.
Aggressivität und Schlägereien werden mit permanentem Hausverbot geahndet. Wer nicht früh aufsteht, Alkohol oder Drogen im Haus konsumiert, oder wenn sich Männer in die Frauenetage schleichen, gibt es eine Woche Hausverbot.
Schülerinnen helfen freiwillig in der Unterkunft
Außer Unterkunftsleiter Heuer sind alle Mitarbeiter der Unterkunft freiwillige Helfer. Zusammen mit Heuer und Näumann begrüßen drei Schülerinnen und Schüler, 18 und 19 Jahre alt, die Gäste und teilen das Essen aus. An diesem Tag gibt es eine Gemüsesuppe und Nudeln mit Tomatensoße, Brot und Tee. Die Unterkunft kocht nur mit Lebensmittelspenden. Sie helfe einfach gerne, erzählt eine Schülerin mit Kopftuch, es mache sie glücklich.
Neben ihr sitzt Majd, der an diesem Tag eigentlich gar keine Schicht zugeteilt bekommen hat aber trotzdem gerne hier ist. Manchmal, so sagt er, macht er auch die Nachtschichten von 22 bis 7 Uhr und geht danach in die Schule. Nachts sind neben den zwei Sicherheitsleuten nur zwei Freiwillige vor Ort, ab und zu gehen sie durch die Gänge.
Angst habe er hier nie, sagt Majd, der seit drei Jahren mit seiner Familie in Deutschland lebt. Wenn etwas sei, wäre ja die Security da, aber es würde auch wenig passieren, die Obdachlosen würden schlafen. Für Heuer und Näumann sind die drei Schüler eine wichtige Ergänzung: sie können Türkisch und Arabisch mit den Gästen reden und sprechen auch fließend deutsch.
Nach 22 Uhr gibt es nur noch Brot
„Ohne die Freiwilligen wären wir hier ganz schön im Arsch“, meint einer der Obdachlosen. Er und die anderen Gäste sind damit beschäftigt, sich zu organisieren: Essen, duschen, das Bett beziehen, nochmal rauchen gehen, nochmal an die Kiste mit dem Hab und Gut. Einem Mann wurde das Shampoo geklaut, Näumann gibt ihm ein neues.
Ein junger Mann möchte noch etwas essen, doch es ist schon kurz nach 22 Uhr: Heuer bleibt streng, es gibt nur noch Brot. Dann verabschiedet er sich, bald beginnt die Nachtruhe. In den Gängen der drei Etagen ist es dunkel und ruhig. Aus einem Raum ist ein lautes Schnarchen zu vernehmen, ein Mann hustet stark und lange.