„Wir werden behandelt wie Aussätzige“: Eine Berliner Familie infizierte sich mit Sars-Cov-2 – nun wird sie angefeindet
Harriet Häußlers Familie gehörte zu den ersten Infizierten der Hauptstadt. Bis heute sieht sie sich Schuldvorwürfen ausgesetzt.
An einem Freitag vor drei Wochen ging Harriet Häußlers neunjährige Tochter zum ersten Mal wieder zur Schule. Am Tag darauf bekam Häußler von der Mutter eines Mitschülers eine E-Mail: „Ich möchte dich eindringlich bitten, dass sich auch deine Tochter an die Regeln des Social Distancing hält.“ Das sei auch „aus menschlicher Sicht“ dringend geboten. „Es ist solch verantwortungs- und rücksichtsloses Verhalten mancher Eltern, das mich als Mutter die Rückkehr an Schule und Kita fürchten lässt.“
Eltern sind zurzeit nervös und Grundschüler für permanentes Beachten von Anderthalb-Meter-Distanzen nicht geschaffen. Doch dieser Fall ist besonders, weil Harriet Häußlers Familie sich im März mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Die E-Mail ist die letzte in einer Reihe von Anschuldigungen, denen sie sich in den letzten Wochen ausgesetzt sah. Die Mutter des Mitschülers unterstellt der Tochter, dass sie sich immun fühle und deshalb Abstandsregeln missachte.
Harriet Häußler ist eine selbstbewusste Frau Anfang 40 mit braunen Locken, eine Kunsthistorikerin, die gerade an einem Buch über den Kunstmarkt von der Antike bis zur Gegenwart schreibt. An einem kühlen Nachmittag im Mai empfängt sie, den Gepflogenheiten der Pandemie-Wochen entsprechend, in ihrem Dahlemer Garten.
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„Damals rechnete man noch nicht mit Corona“
„Wir werden behandelt wie Aussätzige“, sagt sie. Nicht lange vor der E-Mail, erzählt sie, habe sie einen Anruf von einer Bekannten aus der Kirchengemeinde bekommen. „In mir steckt so viel Wut“, sagte die. Sie ärgerte sich darüber, dass sie erst jetzt von der Infektion der Familie erfahren hatte.
Ihre Aufgeregtheit überraschte Harriet Häußler, denn die Covid-19-Infektion ist lange her. Die Häußlers zählten zu den Ersten in der Stadt, die sich mit dem Virus infizierten. Am 9. März, dem Tag, an dem die jüngste Tochter zu husten anfing, verzeichnete die Johns-Hopkins-Universität 48 Fälle in Berlin. Harriet Häußler weiß die Zahl genau, weil sie sich später so oft damit rechtfertigen musste. „Damals rechnete man noch nicht mit Corona.“
Sie nahm die Fünfjährige trotzdem sofort aus der Kita. Der Hausarzt wollte zunächst keinen Corona-Test machen. „Der hielt mich, glaube ich, für eine hysterische Dahlemer Mutter.“ Zumal die Tochter sonst keine Symptome hatte. „Sie war topfit.“
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Montags brachte Häußler eine Gewebeprobe aus dem Rachen der Tochter in der Arztpraxis vorbei. „Ich kann so was. Ich habe mal in einer Praxis gearbeitet.“ Vorsichtshalber hatte sie an dem Tag auch die beiden älteren Kinder nicht mehr zur Schule geschickt. Abends um zehn teilte der Arzt ihr mit, dass der Test zu seiner Überraschung positiv ausgefallen war.
„Hätte ich auf das Amt gehört, hätten wir es einfacher gehabt“
„Und dann habe ich genau das gemacht, was das Gesundheitsamt angewiesen hat“, sagt Häußler. Sie schrieb die Namen aller Personen auf, mit denen ihre jüngste Tochter seit Auftreten der Symptome Kontakt hatte, es waren elf. Und rief alle auch persönlich an.
In einem Punkt setzte sie sich über den Rat des Amtes hinweg: Sie informierte die Schulen der älteren Kinder – obwohl die Mitschüler nur Kontaktpersonen zweiten Grades waren. „Hätte ich auf das Amt gehört“, sagt sie, „hätten wir es einfacher gehabt“.
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Die Familie war gerade dabei, sich in Quarantäne einzurichten, als das Telefon zu klingeln begann. Es waren Eltern von Mitschülern der beiden älteren Töchter, die sich beschwerten, dass die in der Woche zuvor noch in die Schule gegangen waren. „Wut schlug uns entgegen. Nach dem Motto: Wegen dir werden wir jetzt krank.“
Die Anschuldigungen seien belastend gewesen. „Was können wir denn dafür, dass wir krank geworden sind?“ Die Infektion verlief bei der Familie glimpflich.
Nach der Quarantäne-Zeit fuhr Häußler mit allen drei Kindern morgens um fünf Uhr zu einer Ärztin nach Reinickendorf, die vor ihrem regulären Praxisbetrieb Blutspenden von Genesenen sammelt, weil ihr Plasma als wirksames Mittel gegen die Krankheit gilt. Auch deswegen fühlt sie sich ungerecht behandelt, wenn sie als „unsolidarisch“ bezeichnet wird.
„Mehr Angst vor den Reaktionen meiner Mitmenschen als vor dem Virus“
„Ein Stigma“ sei bis heute an ihnen haften geblieben. Da sagte eine Mutter, das Virus „hüpfe“ möglicherweise von einem zum anderen. Eine weitere reagierte pikiert, als Häußler erzählte, dass sie mit den Kindern einen Ausflug zur Pfaueninsel unternommen hatte.
„Ich wurde sogar dafür verantwortlich gemacht, dass eine Tochter keinen schönen Schultag vor der Schließung hatte. Mittlerweile habe ich mehr Angst vor den Reaktionen meiner Mitmenschen als vor dem Virus.“
Letztlich ist, so weit sie weiß, von den Mitschülern ihrer Kinder niemand erkrankt. Die mittlere Tochter, Erstklässlerin, hatte am Mittwoch wieder ihren ersten Schultag. Außer einem Mundschutz hat ihr Harriet Häußler ein Gesichtsvisier gekauft. „Ich habe ihr gesagt, dass sie unbedingt auf den Abstand achten soll. Niemand soll uns einen Vorwurf machen!“