zum Hauptinhalt
Platz der Republik. Aus dem neuen „Haus der Zukunft“ blicken Besucher in die Weite des Parlaments- und Regierungsviertels.
© imago/Reiner Zensen

Berlin-Mitte: Ein Viertel als Schaufenster der Demokratie

Das Regierungsviertel – es liegt mittendrin, mächtig, raumgreifend. Ein Dorf in der Stadt, mal volksnah, mal unnahbar. Ein Spaziergang.

Ein breites, graues, wuchtiges Gebäude mit einer halben Pampelmuse auf dem Dach, mitten im Grünen. „Das ist der Reichstag“, sagt der Vater zu seinem Sohne, „und nächsten Sonntag wählt das Volk die Onkel und Tanten, die da reingehen, um uns zu regieren“. Wir stehen im Aussichtsgeschoss des Fernsehturms. Die Sonne spielt ihre Herbstsonate. Die Stadt scheint unendlich, groß und weit, hinter dem Müggelturm drehen sich die Windräder. Im Westen glitzern Wannsee und Havel.

Dazwischen, am grünen Strand der Spree, steht das Regierungsviertel. Ganz klein von hier oben. In schöner Lage. Es ist der Mittelpunkt deutscher Politik, es gibt nicht an, aber es dehnt sich aus, als ob der Regierung die Mitte der Stadt gehört. Wie selbstverständlich werden Gebäude okkupiert, entkernt, neu gebaut, jetzt gerade die ehemalige US-Botschaft, die jahrelang leer stand. Alles für den Bundestag. Eine Krake im Moloch.

Dabei erinnern kompakte Bauten wie das frühere DDR-Innenministerium mit der „Seufzerbrücke“ über der Französischen Straße, dass es auch bescheidener geht, aber dieses Haus steht größtenteils leer, während am neuen Innenministerium in Alt-Moabit bei grellstem Sonnenlicht die Neonschlangen in den Büros glühen.

Ein Viertel voller Regierung

Wenn das kleine Fachwerkhaus am Rande, das Restaurant Paris-Moskau, nicht sonntags geschlossen hätte, könnten wir jetzt ein „Regierungsviertele“ bestellen, oder den „Kanzlerschluck“. Mehr rustikal ist es ein paar Schritte weiter im Zollpackhof unter blau-weißer Flagge: Bayern unterminiert die Saupreißn, die Alpenrepublik hat längst wichtige Zügel der Gastronomie fest in der Hand. In dem beliebten Biergarten darf mit einem Paulaner der Kanzlerin da drüben, jenseits der Spree, zugeprostet werden.

Natürlich ist das Kanzleramt so etwas wie das Königsschloss der Demokratie. Da zieht es viele Leute mit ihren Anliegen hin. „Ham wir noch nicht gehabt“, sagt der Polizist auf die Frage, ob hier in letzter Zeit jemand an dem kräftigen Stahlgitter gerüttelt und dabei gerufen hat: „Ich will hier rein!“.

Dagegen erzählt der DHL-Paketzusteller, dass er öfter Pakete und Päckchen für Angela Merkel persönlich in seinem gelben Wagen dabei habe, „aber auch für andere hohe Leute“. Da stürzen sich erst einmal die Sicherheitsdienste drauf. Dem Bundestag dient seine eigene Polizei. 6000 Menschen arbeiten für die höchste Repräsentanz – eine Kleinstadt. Und dazu noch die Ministerien, der Bundesrat, die Ländervertretungen, Parteizentralen, ein Heer von Lobbyisten, Verbänden, Stiftungen.

Dann kamen die Nazis

Früher passten die deutschen Regierungen allesamt in die Wilhelmstraße. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 beschleunigte die Okkupation der Straße durch die Politik. Otto von Bismarck arbeitete und wohnte hier, neue Ministerien und Behörden zogen in die Palais, Botschaften errichteten ihre Residenzen, in „Königshof“, „Kaiserhof“ und „Reichshof“ wurde Hof gehalten, auch im „Adlon“.

Die Wilhelmstraße war das Synonym für die deutsche Regierung, wie Londons Downing Street oder der Quai d’ Orsay in Paris. „Was sagt die Wilhelmstraße?“ fragten Europas Regierungen, wenn sie wissen wollten, was die Herren in ihren Büros nahe dem Brandenburger Tor im Schilde führten.

Die Nazis verwandelten die Regierungsmeile in ihre Machtzentrale. Wenn der Führer in seinem schwarzen Mercedes von den „Linden“ in die Wilhelmstraße bog, bildeten die deutschen Volksgenossen und -genossinnen mit ausgestrecktem Arm Spalier, als Italiens Duce kam, standen sich Berlins BDM-Mädel sechs Stunden vor der Reichskanzlei die Beine in den Bauch, um „Heil!“ zu rufen, als sich Italiens Diktator für eine Minute auf dem Balkon der Reichskanzlei zeigte.

Hier ist jetzt ein chinesisches Restaurant, in dem die heutige Polit-Prominenz gerne speist, überhaupt haben nur vier Gebäude von damals überlebt: Das Finanzministerium (in dem einst Göring die Luftwaffe dirigierte), das Ministerium für Arbeit und Soziales von Andrea Nahles (früher: Joseph Goebbels, DDR-Nationalrat und -Presseamt), das einstige Volksbildungsministerium der DDR an der Ecke der Linden und schließlich die Wilhelmstraße 54.

Geschichtsüberladen: Über die vier Stufen zum Eingang schritten die Herren des kaiserlichen Zivilkabinetts, Preußens Ministerpräsident Otto Braun, der Präsident des preußischen Staatsrates, Konrad Adenauer, ferner Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Martin Bormann. In der DDR arbeitete hier der Staatsverlag, heute ist das Haus der zweite Dienstsitz des Landwirtschaftsministeriums, Ziel demonstrierender Bauern mit Traktoren, Strohballen, Borstenvieh und Bauchspeck.

Zwischen Demonstration und Glaskasten

Demonstrieren ist hier Alltag

Apropos Demos: Die bringen etwas Unordnung in das ansonsten sehr regulierte Regierungsviertelleben. Der Verkehr steht still, Busse ruhen sich aus, eine Stimme aus dem Lautsprecher überschlägt sich, Musikfetzen übertreffen Blaulichtsirenen – und manchmal marschieren vorn, hinten und an der Seite so viele Ordnungshüter wie Demonstranten.

Okay, ich liebe diese Demokratie trotzdem. Auch wenn, wie jüngst, fünf Dutzend Vierbeiner (mit Herrchen und Frauchen) unter Polizeischutz am Kanzleramt vorbeilatschend den Verkehr lahmlegen und mit heraushängender Zunge und gefährlichen Beißerchen gegen ihre Einsortierung als „Listenhunde“ protestieren. Es sind Rottweiler, sie beziehen Stellung gegen „Rasselisten“ und Maulkörbe. Motto: „Gemeinsam sind wir stark“. Das ist unübersehbar. Wow.

Noch ’ne Demo, sehr bescheiden: Vor der Russischen Botschaft, auf dem Mittelstreifen der Linden, gibt das Forum russischsprachiger Europäer in Deutschland bekannt: „Russisch zu sprechen heißt noch lange nicht, Putin zu folgen!“ Und: „Stoppt den Kremlschen Drachen!“ Vorher sollten wir aber wissen: „Russische TV-Kanäle sind vom Staat bezahlte Lügner“.

Lügenpresse überall, man könnte wahnsinnig werden. Oder eine Currywurst essen. Besonders scharf ist das Produkt aus der grünen Würstchenbude nahe dem Reichstag. Die Wurstverkäufer reichen ihr Gemisch aus Rot, Braun und Gelb durch die Luke, Gerhard Schröder war lange nicht da, anders die Grünen. Die gehören zur Stammkundschaft. Vegan?

Auf der Suche nach Fantasie

Geistige Nahrung verkauft die Parlamentsbuchhandlung in der Wilhelmstraße 68: Reichstags-Sekt, als Cuvée aus dem Elsaß patentiert, haben Peter Lenz und Ben Maderspacher im Angebot und eine rot-rot-schwarze Auswahl handsignierter Bücher: von Sahra Wagenknecht „Couragiert gegen den Strom“, Franz-Walter Steinmeiers „Flugschreiber“ und Angela Merkels Bekenntnis „Daran glaube ich“. Koalitionen von übermorgen? Neues Denken, wenigstens im Bücherregal?

Auch die riesigen neuen, gesichtslosen Kästen, in denen der Apparat haust, hätten mehr Phantasie vertragen können. Die Ministerien sind computergesteuerte Einfallslosigkeiten. Fensterhöhlen wie Schießscharten, verwechselbar, ohne Charme. Langweilig. Wofür bekommt eigentlich eine Senatsbaudirektorin ihr sattes Gehalt? Muss Bürokratie so hässlich verpackt sein? Auch Hans-Christian Ströbele findet die Dimensionen zu groß, nach Feierabend ist das Regierungsviertel eine tote Hose, „letztens war ich abends hier ganz alleine – mit einem Fuchs!“

Fuchs und Hase hausen auf der Wiese vor dem Reichstag. Hier ist es schön. Sonnenbaden, Schlummern, Flirten, Dösen, ganz nah an der Politik und doch weit weg. Entspannt wie ein leises Volkslied. Ein Junge zaubert aus einem Eimer bunte Seifenblasen. Deine Augen folgen ihrem Tanz in den blauen Himmel hinein. Und schon sind sie zerplatzt.

Zur Startseite