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Projektionsfläche für die Wünsche der Bewohner. Hamburger, Schwaben und manchmal auch ein Berliner. Prenzlauer Berg, Ecke Eberswalder Straße und Kastanienallee.
© Doris Spiekermann-Klaas

Mythos Prenzlauer Berg: Ein Lebensgefühl, das sich nicht wegsanieren lässt

Die Fassaden sind repariert, die letzten Lücken werden bebaut. Das Bild vom alten Prenzlauer Berg verblasst. Und trotzdem ist da ein Lebensgefühl, das sich einfach nicht wegsanieren lässt.

Prenzlauer Berg trägt heute mal Strohhut zum Vollbart. Wolfgang Thierse biegt von der Schönhauser Allee, auf der sich die Autos ein Wettrennen um die Poleposition an der nächsten Ampel liefern, in die Wörther Straße ein. Während auf der „Schönhauser“, wie die Berliner sprachökonomisch sagen, die Luft vor Lärm und Abgasen flirrt, scheint die „Wörther“ zu einer anderen Klimazone zu gehören. Hohe Fassaden und sattgrüne Linden spenden Schatten, der Krach verebbt, je näher es in Richtung Kollwitzplatz geht, jenen Ort, den die meisten mit Prenzlauer Berg verbinden. Thierse ist jetzt in seinem Kiez. Er atmet kurz durch, als müsse noch der Schönhauser-Mief raus aus den Lungen. Das sei doch genialer Städtebau, sagt er, als der Platz mit dem Bronzedenkmal der Bildhauerin in Sichtweite ist. Linker Hand schlängelt sich die wohl längste Parkbank Berlins entlang, rechter Hand schlagen Kinder auf dem Spielplatz Kobolz. Es gibt viele Läden hier, in dem man zwar alles Mögliche, aber kaum das Allernötigste kaufen kann. Und wer mal in allen Cafés gesessen haben will, sollte sich Urlaub nehmen. Plätze in Prenzlauer Berg sind keine Autoverteilzonen, sondern Menschenplätze. Eigentlich, sagt Thierse, sei der Stadtteil eine einzige Ansammlung von Plätzen. Genial eben.

Es wäre übertrieben, den SPD-Politiker einen Trendsetter zu nennen, als er 1964 hierher zog. Aber immerhin haben es in den zurückliegenden Jahren zehntausende so wie er gemacht. Der Stadtteil ist heute das ideale Mittelmaß aus der überkandidelten Mitte, dem multikulturellen Kreuzberg und partyversessenen Friedrichshain. Und dazu „Mythos an jeder Ecke“, wie es Jens-Holger Kirchner, grüner Baustadtrat und ebenfalls Langzeitbewohner, formuliert. Die Vergangenheit als schillernder Kiez, in dem zu DDR-Zeiten viele Künstler und Bohemiens lebten, ist bis heute faszinierend. Touristen gehen mit großen Augen durch das „LSD-Viertel“ an Lychener, Duncker- und Schliemannstraße und lesen in ihren Reiseführern von illegalen Wohnzimmer-Galerien und geheimen Dichterlesungen in abbruchreifen Häusern und müssen das Ganze einfach mal so glauben. Sie stehen vor der Gethsemanekirche, in der das Ende der DDR seinen Anfang nahm, oder versuchen zu erahnen, wie es kurz nach dem Mauerfall war, als Technopartys in irgendwelchen Kellergewölben stiegen.

Prenzlauer Berg - ein Viertel als große Projektionsfläche für die Wünsche der Bewohner

Wer hingegen schon immer hier wohnt, der kommt manchmal ins Grübeln, wo früher eigentlich die Disko „Café Nord“ (heute eine Bank), das „Kaufhaus Fix“ (ein Supermarkt) oder der einzige Fischladen weit und breit (abgerissen) waren. Oder er grinst still in sich hinein, wenn er sieht, wie die allerletzte Häuserlücke mit einem Baugruppen-Kasten zubetoniert wird. Wie war das noch mal mit der Häme über DDR-Arbeiterschließfächer?

So denkt sich jeder seinen eigenen Prenzlauer Berg. Ein Viertel als große Projektionsfläche für die Wünsche der Bewohner. Da hofft das Paar aus der westdeutschen Provinz, sich mit der Wohnung an der Gethsemanekirche auch einen Lebensstil dazukaufen zu können. Da hoffen die jungen Eltern, trotz Nachwuchs und Karriere ihre Coolness aus Zeiten konservieren zu können, als das Wochenende noch von Bier und Berghain und nicht von Babybrei und Buddelkasten bestimmt wurde. Da hoffen die letzten Alteingesessenen, dass die unreglementierte Wendezeit doch noch einmal zurückkehrt, als alles möglich schien und Schwaben höchstens in Grimms Märchen auftauchten. Da hoffen die Spekulanten, sich am heißgelaufenen Immobilienmarkt nicht die Finger zu verbrennen.

Thierse spricht mit so viel Begeisterung, als wäre er hier schon als Kind mit dem Tretroller durch den Kiez gefahren, wo die Namen Straßburger, Metzer, Belforter Straße verdächtig nach Laisser-faire klingen, aber eigentlich an den Sieg Deutschlands über Frankreich im Krieg 1870/71 erinnern. Der Politiker ist wie so viele ein Zugereister, aber natürlich einer mit einer langen Vergangenheit am Platz, deshalb gilt er ja auch als der Prototyp eines Prenzlauer-Berg-Bewohners. Der 69-Jährige kokettiert gern damit und sagt, dass er unter Artenschutz gestellt gehöre. 90 Prozent seiner Nachbarn seien ja erst nach 1990 gekommen. Dafür haben sie dann schon den typischen Berliner Blick drauf, wenn sie dem prominentesten Nachbarn begegnen. Ein kurzer Augenaufschlag „Ach, der ist auch da“, und das war’s schon. Wenn George Clooney vorüberspazierte, der um die Ecke seinen Lieblings-Vietnamesen hat, wäre es nicht anders.

Zugezogen: Schauspieler Christian Kahrmann betreibt ein Café im Bötzowviertel.
Zugezogen: Schauspieler Christian Kahrmann betreibt ein Café im Bötzowviertel.
© Doris Spieckermann-Klaas

„Ey, wir gehen nach Prenzlauer Berg!“

Nächstes Jahr, scherzt Thierse, sei ja schon goldene Hochzeit: 50 Jahre Prenzlauer Berg. So lange ist es schon her, dass er, der gebürtiger Breslauer, aus Weimar nach Berlin zog. An die erste Wohnung, zwei Zimmer, Ofenheizung, kein Bad, kann er sich noch genau erinnern. Die bekam er nur, weil er die Hauswartsstelle mit übernahm, was hieß, zwei Treppenhäuser zu putzen. Als die Familie wuchs, nervte er die Behörden so lange wegen einer größeren Wohnung, bis er in das Haus einziehen konnte, in dem er heute noch lebt. Er wohne ja hauptsächlich aus Bequemlichkeit hier, sagt Thierse. Und vor allem bekomme er so jede Veränderung mit. Auch die ganz kleinen. So wie jene Anfang des Jahres, als Spaßvögel auf dem Höhepunkt des schrägen Schwaben-Streits das Kollwitz-Denkmal mit Spätzle dekorierten und kurze Zeit darauf zwei Pils und eine Portion Currywurst am Denkmal standen. Motto: Käthe gehört den Berlinern! Zum Glück kam keiner auf Idee, einen Teller Klopse zu opfern für Kollwitz, geboren 1867 in Königsberg.

So hat jeder seine Idee von Prenzlauer Berg. Als Christian Kahrmann kam, da hatte der Berlin-Hype schon begonnen. Alles staunte über die Stadt, in der die 20er Jahre eine Neuauflage zu erleben schienen, das Schweizer Botschafterpaar Gesprächsthema Nummer eins und der Begriff Partybürgermeister noch kein Schimpfwort waren. Ein Taumel („Ey, wir gehen nach Prenzlauer Berg!“) hatte den Schauspieler und einige seiner Freunde in Köln gepackt, und so zog er 2001 von einem Tag auf den anderen in die Nähe der Schönhauser. Die Wohnung habe er damals noch nicht mal vorher besichtigt, erzählt der 41-Jährige, den viele noch immer mit seiner Rolle als Benny Beimer in der „Lindenstraße“ identifizieren. Hauptsache Berlin.

"Da sortiert sich was neu in Prenzlauer Berg"

Kahrmann sitzt, als er sich an den Erstkontakt mit Prenzlauer Berg erinnert, in einem Café im gelb-weiß-hellblau sanierten Bötzowviertel und wartet auf die nächste Bestellung – weil er hier der Chef ist. Er hat Tische und Stühle auf den Gehsteig geräumt und muss auf einmal ganz schön rennen, weil draußen gerade eine größere Gruppe Platz genommen hat. Die Straßen sind breit genug, dass es die Sonnenstrahlen bis zum Erdgeschoss schaffen, aber auch ausreichend schmal, dass Autos nicht das Rasen kriegen. Ohnehin hat es hier kaum jemand eilig. Mütter schieben ihre Kinderwagen über den Bürgersteig, nehmen sich Zeit, den besten Platz im Café auszuwählen. Keine wundert sich darüber, dass hier ein Promi hinterm Tresen steht. Na gut, vielleicht der kurze „Ach, der ist auch da“-Blick, wenn Kahrmanns Kollegen vorbeischauen. Das Lokal „Kahrmann’s Own“ ist mittlerweile sein zweites Standbein geworden neben der Schauspielerei. Weil in der Branche, wie der Schauspieler zornig sagt, Dumping-Gagen gezahlt werden, orientierte er sich ein bisschen weg von den schönen Künsten und hin zu den denen des Kaffeebereitens.

Prenzlauer Berg ist der alte Charme abhanden gekommen

Würde Thierse den Schauspieler sehen, so wäre er sicherlich zufrieden, seine These bestätigt zu sehen, wonach es höchstens fünf Jahre dauere, Berliner zu werden. Allerdings, sagt Kahrmann, und da zeigt sich er sich als Einheimischer durch und durch, ist Prenzlauer Berg doch der alte Charme abhanden gekommen. So in der Richtung: Ordnungsamt statt ordentlich feiern. Früher traf man sich zur Party im Dienstagsclub, der so hieß, weil er nur an diesem Tag öffnete. Oder man schleppte Bierkisten und Picknickdecken aufs Dach irgendeines Hauses, um dem Himmel über Berlin näher zu sein. Im Morgengrauen ging’s dann weiter zum Senefelderplatz, wo noch Party war im unterirdischen Tresorraum einer früheren Bank.

Heute ist der Mythos vom Bezirk der Unordnung und Subversion längst Legende. Clubs wie das „Steinhaus“ schließen gerade, weil neu gebaut wird oder weil es es Lärmbeschwerden gibt. Promi-Wirt Kahrmann selbst hat auch gerade ein bisschen Ärger mit dem Behörden, weil jemand Lokalbesitzer im Kiez angeschwärzt hat. Stühle und Werbeplakate standen nicht genau da, wo sie hätten stehen dürfen. Er vermutet einen neidischen Konkurrenten.

Hätte sich Prenzlauer Berg immer an die Regeln gehalten, dann sähe es an vielen Ecken anders aus. Unter Honecker waren die Pläne für einen flächendeckenden Abriss schon fertig. In der Rykestraße, heute ein Altbau-Traum, wollten die Planer Plattenbauten hinklotzen. Auch an der Oderberger Straße, unweit zur damaligen Grenze nach West-Berlin, sollten die von der DDR vernachlässigten Häuser fallen. Doch im Bezirk der Unangepassten regte sich Widerstand gegen die Pläne. Anwohner schlossen sich sich zusammen, ließen sich zur Überraschung der Staatsmacht in die örtliche Kommunalvertretung wählen und konnten den Abriss verhindern.

Die Häuser sind nun in Ordnung, aber die Leute weg

Ein wenig blitzt von diesem Geist wieder auf, wenn sich heute Bewohner gegen „die da oben“ wenden, sei es, wenn es um neue Häuser am Mauerpark oder nur um alte Bäume geht. Da stehen Schwaben, Hamburger und Berliner zusammen wie ein Mann. Im Bötzowkiez bewahrten sie eine mehr als 130 Jahre alte Bibliothek vor dem letzten Kapitel, in dem sie erst den Widerstand organisierten und dann dem Bezirk eine Kooperation abrangen. Dieser stellt seither Technik und Räume, der Anwohnerverein „Pro Kiez“ das ehrenamtliche Personal. Für Klaus Lemnitz, der als Vereinschef den Protest miterlebte, war die Rettung etwas Besonderes. Er sitzt auf der Bank vor dem imposanten Klinkerbau mit den drei Etagen und erinnert sich an die Aktion. Erstmals hätten Alt- und Neunachbarn zusammen etwas auf die Beine gestellt, sagt er. Die schlugen dem Amt dann später noch ein Schnippchen, als es eines Tages Beamte schicken wollte, um alte Bücher auszusondern – so wie es in jeder Berliner Bibliothek Vorschrift ist. Da rannten alle in die Bücherei, und am Ende war nichts mehr da zum Wegwerfen. Alles ausgeliehen.

Solche Aktionen wollen was heißen in den durchsanierten Prenzlauer-Berg-Kiezen, in denen die Hälfte erst in den vergangenen fünf, sechs Jahren zugezogen ist. Schaut man auf die Zeit vor der Generalüberholung, dann ist es sogar weniger als ein Fünftel, das noch von früher da ist. Die Häuser seien nun in Ordnung, aber die Leute weg, sagt der Mann vom Kiezverein. Allerdings freue er sich natürlich auch, wenn er die vielen Kinder sieht und das Sprachgewirr auf den Straßen hört. Doch mittlerweile gebe es sogar Druck auf die Neuen, weil deren Vermieter nun den Wert einer Wohnung im hippen Berlin entdecken und Eigenbedarf anmelden. Lemnitz wohnt seit 1975 hier und hätte sich eine sanfte Sanierung wie in Kreuzberg gewünscht, also mit größerer Beteiligung der landeseigenen Wohnungsgesellschaften, damit die Mieten erträglich bleiben. Zum Kiezverein gehören mittlerweile alle möglichen Arbeitsgruppen, die sich eben um die Bücherei kümmern oder um das erste Sommerfest, das wiederum von Anwohnern mit angeschoben wurde, die sich ehrenamtlich um den Arnswalder Platz kümmern, der nach einer millionenteuren Sanierung verwahrlost war. Da sortiert sich was neu in Prenzlauer Berg, sagt Baustadtrat Kirchner. Menschen entdecken ihre Heimat und übernehmen Verantwortung.

Ohne den Prenzlauer-Berg-Idealismus wäre der Teutoburger Platz eine staubige Asphaltfläche geblieben

In dem Augenblick, in dem man den Mund aufmache, sei man Prenzlauer Berger, sagt Wolfgang Thierse. Nach dieser Definition ist Wenke Rottstock vom Teutoburger Platz ein gutes Beispiel dafür. Die 43-Jährige mit dem wilden Oberarm-Tattoo hat ein paar Stühle vor das Platzhaus geräumt, eine Art Kieztreffpunkt, vor Jahrzehnten als Milchausschank für Arme geplant, später Trafohäuschen, heute ist der ziegelgedeckte Pavillon für jeden zu mieten für kleines Geld. Ringsherum stehen sanierte Altbauten, die Wohnungen sind wegen der Nähe zu Mitte begehrt. Die Häuser sind ein bisschen älter als der Rest des Bezirks, weil vor gut 150 Jahren die Bebauung begann. Wer von den Bewohnern Glück hat, kann aus dem Fenster zum Platz gucken, auf dem es üppig grünt. Kindergeschrei dringt herüber, gerade ist eine Kita-Gruppe zum Spielen gekommen. Lange dauert es nicht, bis Passanten die Frau am Platzhaus erkennen und herüberkommen, um das Neueste auszutauschen. Rottstock, gebürtige Dessauerin, gehört zu „Leute am Teute“, einer Initiative von Anwohnern.

Deren Anfänge reichen allerdings weit in die DDR zurück. Aufmüpfige Bürger hatten sich zusammengefunden, die nichts mit der Staatsmacht am Hut hatten. Viele junge Menschen lebten in den heruntergekommenen Altbauten. Es gab eine Untergrundszene, die zur Keimzelle der Revolution von 1989 wurde; Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley hatte hier ihr Atelier. Von der Vergangenheit ist bis auf eine Info-Säule nichts zu erahnen, gäbe es da nicht eben dieses Häuschen auf dem Platz, die Liegewiese, den Sandspielplatz, den Grillplatz und die Klettergerüste – alles erkämpft mit dem Prenzlauer-Berg-Idealismus, ohne den der Teutoburger Platz eine staubige Asphaltfläche geblieben wäre.

Kein Wunder, dass es vor einem Jahr am Teutoburger Platz nicht besonders gut ankam, als den Anwohnern im Guggenheim Lab erzählt werden sollte, wie Beteiligung der Bürger am Stadtleben funktionieren könne. Wie ein Ufo stand es da gleich gegenüber vom Platz; aus Kreuzberg war es zuvor weggemobbt worden. Im Raumschiff selber gab’s dann Diskussionen, Nähkurse, Tipps zur Müllvermeidung oder Gespräche zum Stadtgärtnern – ausgerechnet hier, wo wenige Schritte entfernt sogar die örtlichen Trinker ihr eigenes Beet pflegen. Der Kontakt zum Lab habe sich doch sehr in Grenzen gehalten, sagt Rottstock, die bis heute nicht so recht weiß, was das Lab eigentlich sollte. „Die leben in einer anderen Welt und sprechen nicht meine Sprache“, sagte sie damals und meinte das wörtlich, weil alles auf Englisch passierte.

Aber die Leute am Teute wären nicht die Leute am Teute, wenn sie sich nicht auch um Verständigungsprobleme kümmerten: Demnächst soll am Platzhaus ein Schild angebracht werden. Auf Englisch, weil es viele Fragen gibt, wer denn hinter dem Ganzen steckt.

Björn Seeling

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