Berliner Naturkundemuseum: Ein Kommen und Sehen
Beinahe verstellten all die Saurierskelette den Blick darauf, dass es hier um aktuelle Fragen des Lebens geht. Weshalb es einen wie Johannes Vogel braucht. Seit einem Jahr leitet er das Berliner Naturkundemuseum. Er macht es sichtbar. Und wenn er könnte, schlüge er wohl ein Rad.
Unmöglich, in dieser Sache von einer „Leistung“ zu sprechen. Und doch ist es wohl der merkwürdigste und der unwahrscheinlichste Umstand im Leben des Johannes Vogel, 49, Biologe aus Bielefeld, dass er es fertigbrachte, seine persönlichen Gene mit Genen von Charles Darwin zu kreuzen. Er heiratete Sarah Darwin, eine von dessen Ururenkelinnen. Und als das Berufliche im Privaten aufging, entstanden zwei Söhne.
Dagegen ist es viel weniger unwahrscheinlich, dass Johannes Vogel, der sein gesamtes Berufsleben in England verbracht hatte, vor einem Jahr neuer Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums wurde. Am 1. Februar 2012.
In Wahrheit, sagt Vogel gewichtig, war er da schon monatelang zwischen London und Berlin hin- und hergeflogen. Denn eine Evaluation des Museums stand an „auf Leben und Tod“. Sie soll über dessen Zukunft und den Verbleib in der Leibniz-Gemeinschaft und damit über die finanzielle Sicherung entscheiden. „Aber etwas Besseres kann einem neuen Generaldirektor, der sein Haus kennenlernen will, nicht passieren“, sagt Vogel. Er musste erst einmal gründlich herausfinden, was für einen Schatz er da eigentlich hüten sollte.
Vogel war damals hingefahren für einen ersten Besuch. „Und nach zehn Minuten wusste ich, was zu tun ist.“ An der Pforte, an der jeder Mitarbeiter morgens seinen Büroschlüssel abholt, saßen „ungehaltene Männer in Uniform – man musste sich überlegen, wie man mit denen umgeht“. Die Infrastruktur war marode, es gab Löcher im Dach. „Dann wurde schnell klar, wo hier die Kampflinien sind: Jeder für sich, keiner für alle.“ Er hatte Ähnliches im Londoner Natural History Museum schon einmal gesehen, er war ja dabei gewesen, als es verbessert wurde. Acht Jahre war er dort Abteilungsleiter. Seine wichtigste Lehre aus dieser Zeit lautet: „Man kann Leute nur dann dazu bringen, mit einer Zunge zu sprechen, wenn man sie an Veränderungen beteiligt.“ Aber vor einer Strategie stand die Bestandsaufnahme.
In das Museum in der Invalidenstraße kommen im Jahr knapp eine halbe Millionen Besucher, darunter 2500 Schulklassen. Die aktuelle Diskussion um Ressourcen, Wasser, soziale Gerechtigkeit – „das läuft alles bei uns zusammen“, sagt Vogel. Die Öffentlichkeit muss das nur noch merken. Es ist, als verstellten die Saurier den Blick darauf, dass dies ein Forschungsmuseum ist, zuständig für die aktuellen Fragen des Lebens.
Ferdinand Damaschun ist Frühaufsteher. War er immer schon. Er eilt an einem Januarmorgen voran durch das noch dunkle Museum, in dem ein milder Geruch von Reinigungsmitteln über den frisch gewischten Terrazzoböden hängt. Einmal quer durch „Das System der Erde“, links ragen die Schemen der Saurierskelette in die Höhe, „Vorsicht!“, warnt er vor den Ecken der Vitrinen im Dämmer. Damaschun selbst würde sein Büro auch blind finden.
Er, der 1970 zum Studium an das Institut der Mineralogie kam, um sich mit dem inneren Aufbau künstlicher Kristalle zu beschäftigten. Da war das Museum noch ein Institut der Humboldt-Universität. Nach vier Jahren hatte er sein Diplom und wechselte 1974 bloß die Flurseite, um ein Röntgenlabor aufzubauen. In einem schnellen Ritt durch die Geschichte skizziert Damaschun die verschlafene Zeit in der DDR, die verstörende Wende und die Wende für das Museum, die 2007 mit der Eröffnung des Saurier-Saals kam. Gab es vor dem Umbau 250 000 Besucher im Jahr, schnellte ihre Zahl nun auf knapp 500 000 hoch.
Acht Direktoren hat Damaschun erlebt, ihn selbst nicht mitgerechnet. Zweimal war er selbst Direktor, übergangsweise. Jetzt ist er zuständig für die Ausstellungen, die Schnittstelle zum Besucher, die auch dem neuen Direktor besonders wichtig ist. Verglichen mit anderen Museen kommen hierher mehr Kinder. Wenn sie groß sind, gehen sie meist in „richtige“ Museen. Fast alle Berliner waren einmal da. Ein Mal.
Damit sich das ändert, machen sie schon seit Jahren Sonderausstellungen. Und langsam glaubt Damaschun in einer „gefühlten Soziologie“, mehr „typische Museumsbesucher“ ausmachen zu können. Erwachsene Einzelbesucher, „ich könnte sie auch optisch beschreiben“. Wie also? „Na ja die, die Sonntagvormittags in den Hamburger Bahnhof gehen.“ Damaschun zögert. „Roter Wollpullover, Cordhose, bequeme Schuhe.“ Er guckt an sich herunter. Auf eine grüne Cordhose in breiten Streifen.
Vogel hatte gesagt: Der Unterschied zwischen einem Wissenschaftler an der Universität und einem Wissenschaftler an einem Forschungsmuseum müsse seine Beredtheit sein. „Sprechfähigkeit“ nennt er das. Erst wenn ein Forscher seine Kenntnisse auch vermittelt, werde aus Forschung Bildung.
Er sei der "Dompteur", sagt der Direktor
Viele der 400 Mitarbeiter, davon 69 Wissenschaftler, hätten durch die Workshops im vergangenen Jahr „zum ersten Mal erkannt, was ihre Kollegen machen“. Heute sieht er eine „anständige Streitkultur“, in der man sich etwas sagen kann, ohne den Respekt voreinander zu verlieren. Ihm habe man schon gesagt, er sei zu flapsig. Aber er hält Witze für eine Art, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Vogel, der zunächst Jurist hatte werden wollen, war Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Er schrieb seine Doktorarbeit über Farne und wurde Abteilungsleiter der Botanik am Natural History Museum in London. Er liest täglich online den „Guardian“ und die „Financial Times“. Sein „witzich“ klingt wie bei Helge Schneider. Das ist eine schöne Färbung im Gefieder des internationalen Vogel, denn es beschwört das Ruhrgebiet herauf, seine Heimat.
„Ja, was bin ich hier?“, fragt Vogel. „Dompteur?“ – Und dann etwas kryptisch: „Es kommt darauf an, wo man mit der Peitsche hinknallt.“
Sylke Frahnert, Kustodin für die Ornithologie, ist die Dominanz des Vogels in der Naturkunde nicht entgangen. Von allen Tieren waren es Vögel, die Darwin auf seine Ideen zur Evolution brachten. Leute kommen auf Gedanken, wenn sie Vögel sehen. Sie zu beobachten gilt als ausgefallen, aber noch nicht als schrullig. Schriftsteller tun es, Jonathan Franzen tut es. Vermutlich liegt es daran, dass Vögel sichtbarer sind als andere Arten. Sie machen mit Gesang auf sich aufmerksam, sie sind komisch und bunt, „und oft sind sie einfach schön“, sagt Frahnert. Kein Wunder, dass sie auf Expeditionen eher bemerkt wurden als Würmer.
Und dann fällt der komplexe Geruch auf, hinten in der stillen Forschungssammlung, zwischen den dicht gerückten Schränken. „Alle bemerken den“, sagt Frahnert. Er rühre daher, dass auch tote Vögel unterschiedlich riechen, weshalb nun jeder Raum sein eigenes Aroma hat. Der uralte PVC-Belag reißt, der Putz blättert, die morschen Lampen beleuchten Wände, die Wasser ziehen.
Auf dem Boden von Frahnerts Büro liegt ein beiges Kachelimitat aus Plastik, alte Karteikästen stehen da, in den Regalen historische Literatur, und der Vogel auf dem Tisch ist seit 150 Jahren tot: ein Basalt-Steinschmätzer aus dem südlichen Ägypten. Frahnert erzählt, wie sie erst jüngst den genauen Fundort rekonstruieren konnte, indem sie sein noch nicht ausgereiftes Federkleid in Verbindung brachte mit den Zeit- und Ortsangaben in dem dazugehörigen Expeditionstagebuch. Der aufwendigste Fundort, den sie einmal finden musste, war eine Lichtung.
Alle Museen gelten als Variationen einer Art. Aber sind sie überhaupt vergleichbar? Kann man ein Museum, dessen Bilder auf Auktionen ersteigert wurden, mit einem vergleichen, dessen Sammlung auf historischen Expeditionen beruht?
Es sind hier Objekte versammelt, zu denen man mit immer neuen Fragen zurückkehren kann, sagt Frahnert. Es ist ja mitnichten so, dass man die Sammlungsstücke, einmal angeschafft, in den kommenden Jahrzehnten nur noch abstaubt. Der Wert der Sammlung oszilliert im Licht aktueller Forschung. Die gleichen Fundstücke lassen sich mit neuen Techniken noch einmal erforschen.
Und die Expedition ist ein Erkenntnisinstrument, das längst selbst zum Forschungsgegenstand geworden ist. Zurzeit interessieren sich viele Länder, in denen gefangen und gesammelt wurde, für ihre eigene Geschichte. Brasilianische Forscher werten Expeditionstagebücher aus und verknüpfen sie mit anderen Disziplinen. Auf diese Weise werden jetzt auch soziale, politische und nationalhistorische Fragen am Museum beantwortet.
Und dann braucht es jemanden, der die neue Bedeutung der alten Sammlungen sichtbar macht.
Ein Ort mit 80 Prozent der Kulturgüter Berlins
Als im vergangenen Jahr der Zeitgeist in Gestalt des neuen Direktors das Museum betrat, mussten die Mitarbeiter ihm erst helfen, seine Sprache wiederzufinden. „Man merkte, dass er nach Worten suchte“, sagt Damaschun. Vogel hatte die letzten 23 Jahre in England verbracht. Dafür brachte er ihnen bei, dass ihr Vergleich nicht etwa andere Berliner Museen, sondern die großen, naturhistorischen Sammlungen der Welt sein müssen.
Vogel weiß, dass die Sichtbarkeit einer Sache genauso wichtig werden kann wie die Sache selbst. Die Sichtbarkeit ist ein Kriterium, an dem er sich messen lassen will. Dafür kennt er Mittel. „Das liegt an meiner Person, wie ich mich benehme. Damit muss ich experimentieren.“ Wenn er könnte, schlüge er wohl ein Rad, aber so trägt er diesen unübersehbaren Schnurrbart und Krawatten mit naturkundlichen Motiven. Davon besitzt er Hunderte. Der Generaldirektor, da ist er ganz Vogel, vertraut für seine Werbung auch optischen Mitteln. Im vergangenen Jahr wählte man ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden im Bioökonomierat der Bundesregierung.
Sein Museum, sagt Vogel, liefere in einer riesigen Vitrine mit verschiedenen Arten das bundesweit einzige Bild, um den sperrigen Begriff „Biodiversität“ zu bebildern. Die Vitrine hat es zusammen mit den Saurierskeletten auf eine 45-Cent-Briefmarke geschafft. Vogel weist auf die beeindruckende, 2010 eröffnete Nass-Sammlung mit Flüssigpräparaten hin, die in der Fachliteratur als die Zukunft für Forschungsmuseen beschrieben werde. Und dann ist da noch der ästhetische Wert der Sammlungen, es gibt schöne, klare Fotografien von den präparierten Tieren, den Krokodilshäuten, den Gebeinen und den Präparaten in den Schliffstopfengläsern. Klar und unbestechlich stehen sie da, in ihrer konservierten Materialität über jede Mode erhaben.
„80 Prozent der Kulturgüter Berlins sind hier versammelt“, sagt Vogel. „30 Millionen Sammlungsstücke.“ Und nach einer Kunstpause lauter: „Was haben die Berliner Museen? 10 000 Bilder? Das habe ich in einem Schrank!“
Vogel vergleicht nicht, er zählt einfach. Und kommt zu dem Schluss, dass er mehr Äpfel hat als andere Leute Birnen.
Man kann ja auf verschiedene Arten der Größte sein: in Sachen Ausstellungsfläche (hier 7100 Quadratmeter), Besucherzahlen (knapp 500 000), Sammlungsgröße (30 Millionen Objekte). Vogel erweitert einfach die Kriterien, nach denen verglichen wird. „Die Hauptstärke sind die Publikationen“, sagt der Generaldirektor. Publikationen sind der Seismograf der Wissenschaft. Unter Einsatz von viel weniger Kapital seien in Berlin genauso viele hochwertige, wissenschaftliche Publikationen entstanden wie in London.
Dann ist da die Zahl für die „Grundsicherung“ pro Sammlungsstück. Im Durchschnitt haben die großen naturkundlichen Museen der Welt dafür 1,45 Euro zur Verfügung. Im Haus sind es 0,45 Euro. Statt einzusehen, dass das erheblich unterfinanziert ist, haben sie Vogel bei der Senatsverwaltung zur großen Effizienz des Hauses gratuliert. So sind sie hier in Berlin.
Vogel braucht diese Zahlen, um eine Überleitung zu finden von der Relevanz seines Hauses zur Höhe seiner Forderungen. Er weiß, dass er Forderungen stellen muss, die unverschämt klingen. Das liegt daran, dass in vielen Räumen des Hauses seit der Erbauung nie etwas getan wurde. Sie haben in dem Teil, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, einfach ein paar Leitungen über Putz gelegt und für die wertvollen Sammlungen Rauchmelder installiert. Vogel flapst: „Dann wiederum sind 400 Millionen Euro ein Klacks. Das sind drei Tage Griechenland.“
Als der neue Direktor sich mit allen Mitarbeitern durch den Bestand gewühlt hatte, als die Evaluierer kamen, mit gut zwanzig Leuten an zwei Tagen im Oktober, war alles präpariert. „Wir arbeiten nach evolutionsbiologischen Prinzipien“, sagt Vogel. Wer am besten adaptiert, überlebt. Hier am Haus habe der jahrzehntelange Mangel zu großer Effizienz geführt. Das Urteil der Leibniz-Gemeinschaft steht noch aus.
„Wissen Sie, wie lange es dauert, in Berlin eine U-Bahn-Station umzubenennen?“ Zwei Jahre habe sein Vorgänger daran gearbeitet, dass die Haltestelle „Zinnowitzer Straße“ an der U6 jetzt „Naturkundemuseum“ heißt. Vogel ist jetzt ein Jahr in Berlin. „Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass alle eigene Arbeit für die Nachfahren ist.“
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