Berliner Nachtleben: Ein Jahrhundert Clärchens Ballhaus
Tanzverbote, Weltkriegsbomben, Witwenbälle und Flimmerballons – Clärchens Ballhaus hat viel erlebt, seit es vor 100 Jahren eröffnet wurde. Aber noch immer geht es um die simple Frage: „Tanzen Sie?“.
Die da vorne etwa. Das Kinn himmelwärts gereckt, die Augenlider flackern konzentriert. Aschblond das schüttere halblange Haar, die Züge verhärmt, die Beine nur Stöckchen, der Volantrock von gestern, aber diese Haltung. Stolz, fast herrisch.
Oder die dort. Den Kopf mit Turban getarnt, der Körper rund, die Beine Stampfer, ein Wallegewand als Panzer, aber das hoheitsvolle Lächeln und dieses Rhythmusgefühl. Fließend, federnd, elegant.
Zwei Prinzessinnen. Auf der Straße sähe das niemand. Aber hier auf dem Parkett und umringt von Tanzpaaren, die sich holpernd oder auch zutiefst harmonisch über die Tanzfläche bewegen, hier bekommen sie Szenenapplaus.
Donnerstagabend in Clärchens Ballhaus. Das heißt Standardtanz. Walzer, Foxtrott oder Latein. Das ist die Bühne der Unscheinbaren, Schauraum für Gaffer, Sehnsuchtsort oder einfach nur Feuerwehrball. Bei „Yes Sir, I Can Boogie“ ist die Tanzfläche voll. Mit Pumps, Turnschuhen, Riemchensandaletten, Slippern. Mit Verliebten und Einsamen, Schönen und Hässlichen, Reichen und Armen, Jungen und Alten, mit Jenny aus Australien und Bernd aus Pankow. Sie kreiseln durch den Saal, verbunden im Tanz, im Strom des Lebens und der Zeit. Das ist Clärchens Walzerzentrifuge, ein beim Hinsehen immer weiter verschwimmendes Bild.
Dabei ist das hier gar kein poetischer, sondern ein konkreter, geradezu handgreiflicher Ort. Ob Tänzer oder Nichttänzer ist völlig egal. Kein Tourist, der wenn auch zufällig hier, kein Stammgast, dessen Augen nicht glitzern, wenn er unter der bröckeligen Hausfassade in der Auguststraße durchtaucht und den Saal betritt. Da, wo an der Wand Lametta in langen Streifen von der Decke hängt und glänzt, und Nelken auf betagten Tischen stehen.
Clärchens ist das populärste der drei Überbleibsel versunkener Ballhauskultur in Mitte. Das einzige, das als eines von 900 Berliner Ballhäusern der Kaiserzeit bis jetzt überlebt hat, so dass noch täglich Tanz ist. Keine leichenblasse Legende, sondern ein gewachsener lebenspraller Ort. Eine Institution, vielfach beschrieben, fotografiert, gefilmt. Am 13. September wird die einst als Bühlers Ballhaus gegründete Amüsierstätte nun 100 Jahre alt. Auftakt der Festivitäten ist schon jetzt.
Was haben die Wände, Stühle, die rissigen Spiegel im oberen Saal nicht alles gesehen?
In der Kaiserzeit, als Fritz Bühler und seine Frau Clara – die eigentliche Chefin des Etablissements – den Tanzsaal eröffnen, gehen schneidige Offiziere ebenso wie einfache Leute aus der Spandauer Vorstadt ein und aus. Der Spiegelsaal dient als Fechtboden für schlagende Verbindungsstudenten. Und nach den Weltkriegen, in denen das Tanzen jeweils eine Zeit lang verpönter als das Töten ist, holt die erst verwitwete und dann wieder verheiratete Clara Habermann die überschüssigen Frauen gezielt zu Witwenbällen ins Haus.
Ein Bierglas ins Gesicht geschlagen. Lappalie, findet er.
Klaus Schliebs, der Empfangschef, sitzt schon am späten Freitagnachmittag an einem weiß eingedeckten Tisch im Saal, während ein Tanzlehrer seinen Schülern noch Rumba-Schritte zeigt. Vor sich liegen hat er die Tischreservierungen für den Abendschwoof, und er weiß auch, dass die Bitten vieler Damen später folgen werden, „Klausi, komm’ doch, tanz mit mir“. Das hört er abends häufig. Früher habe er das gerne mal gemacht, aber nun nicht mehr. 68 Jahre alt ist der attraktive Herr, 17 davon hat er bei Clärchens verbracht. Zunächst seit Ende der 60er zehn als Kellner, die letzten sieben dann an der Tür. Sommers wie winters in Smoking und Fliege. Das muss sein, auch wenn die Gäste weniger elegant gekleidet kommen.
Schliebs hat Prinzipien. „Hier steht schließlich Ballhaus dran und nicht Diskothek.“
Sein Chef Christian Schulz hat ihn mit Bedacht ausgewählt. An der Tür ist es stets der erste Eindruck, der zählt.
Schulz selber hält sich da weniger dran. Jedenfalls am Freitagvormittag, Kellner decken Tische ein, der leere Tanzsaal atmet Wirtshausmelancholie. Und Schulz steht da als einer dieser berlinischen Nach-Wende-Kulturgestalter, Phänotyp lässiger Visionär. Er und sein Partner David Regehr betreiben das Ballhaus seit 2005. Regehr ist Maler, Schulz Schauspieler, Anfang 40, gebürtiger Münchner. Die Sägespäne auf seinem breitkrempigen Hut hat er aus dem Monbijoupark mitgebracht. Da führen sie das Hexenkessel- Hoftheater und die Strandbar, bald öffnet auch Schloss Schwante, ihr neues Projekt.
Auf der Bühne steht er kaum noch, erzählt Schulz. „Ich schaffe Orte, bin Impresario.“
Genau weiß Schulz selbst nicht, wie es ihm geglückt ist, das Anfang der Zweitausender in Gästeschwund und Dornröschenschlaf verfallene Clärchen wieder zu erwecken. Da war so ein Gespür, dass das Tanzen, der Wunsch, Gemeinschaft zu teilen, wiederkommt. Das passt sowohl in Krisen- wie in neubürgerliche Zeiten. Und dann der traditionsreiche Ort! Den müsse man versuchen zu verstehen. „Wir wären ja schön blöd, die Fassade zu renovieren – sie ist ja unser Markenzeichen.“
60 Angestellte hat er inzwischen, der Jahresumsatz beträgt drei Millionen Euro, um die 2000 Gäste kommen allein am Wochenende. Schulz arbeitet und lebt mit Familie hier: der erwachsene Sohn im dritten Stock, er im vierten. Und jeden Abend die Musik?
„Lasse ich durch mich durchrauschen.“ Hilft ja nichts. Denn – und das sagt er mehrfach: „Das Ballhaus ist größer als wir.“ Den Pizzaofen, den er als Referenz an Partyvolk und Mittagsgäste hineingebaut hat, haben ihm trotzdem einige Stammgäste verübelt. So wie den neumodischen Veranstaltungsmix, der ständig andere Gäste anzieht.
Freitagnacht, die Tanzfläche ist brechend voll. Diskohits wummern, Rocksongs hämmern. Dies ist der legendäre, derbe, bierselige Feuerwehrball. Apropos Legenden: Heinrich Zille, von dem die zur 750-Jahr-Feier Ost an die Wand gehängten Reproduktionen stammen, der verkehrte tatsächlich hier. Und natürlich Brad Pitt, der mit Quentin Tarantino im Saal gedreht hat. Nicht jedoch Alfred Döblins Romanheld Franz Biberkopf, der vorne in Clärchens Speisekarte quasi als literarischer Gast geführt wird, aber in „Berlin Alexanderplatz“ lieber ins Ballhaus Gipsstraße geht. Oder der Maler Otto Dix, dem das erste Ballhaus-Logo angedichtet wird.
Von ihm ist es aber nicht, sagt Marion Kiesow. Sie sitzt im kleinen Schwarzen an ihrem Stammtisch rechts am Fenster. Ihre Rolle in diesem Augenblick: Legendenzertrümmerin. Weil sie sich auskennt.
Kiesow ist Grafikerin, wohnt in Friedenau und geht seit 2006 ins Clärchens. Weil sie gerne tanzt, einfach so für sich, ganz allein. Den Mann lässt sie zu Hause, höchstens Freundin oder Tochter dürfen mal mit. „Man kann hier einfach so sein, wie man schon immer mal wieder sein wollte“, sagt sie. So sei es in den tanzwütigen Zwanzigern gewesen, so ist es heute. In diesen toleranten Geist des Ballhauses hat sie sich verliebt und dann drei Jahre lang Material für ein Buch ausgegraben, mit ehemaligen Angestellten und langjährigen Gästen gesprochen. Vor ein paar Tagen wurde Kiesows 400 Seiten starke Kulturgeschichte „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ im Spiegelsaal vorgestellt. Niemand weiß mehr über Clärchens als sie.
"AC/DC, da bin ich mehr für"
Höchstens einer, Günter Schmidtke, aber der ist gerade jetzt im Remmidemmi der Partyband The Orworms so schwer zu verstehen. Schmidtke ist der Patriarch vom Ballhaus und als solcher weit über die Grenzen der Stadt bekannt. Seit 1976 steht er freitags und samstags, an den lauten Tagen, in Schlips und Kragen in der schmiedeeisernen Garderobe. Die Mutter und die verstorbene Frau arbeitete auch hier. Tochter Ilka, Schwiegersohn Lothar und Enkel Max tun es immer noch. Wenn hier was mythisch ist, dann er, Schmidtke, nur weiß er nichts davon.
„Mädelken, sag’ Günter zu mir“, sagt er und hält seinen Bizeps zum Reinkneifen hin. Früher war es hier fürchterlich, behauptet er. „Allein den ,Schneewalzer’ gab’s fünfmal pro Nacht. Jetzt ist Jugend hier, Shakira und AC/DC, da bin ich mehr für.“ Und dass das Ballhaus so friedlich geworden ist, gefällt ihm. Zu DDR-Zeiten, als ein Bier 50 Pfennig kostete, habe es viermal die Woche Keilerei gegeben. „Handgelenk, Brustbein, Rippe – alles schon gebrochen.“
Davon kann auch Klaus Schliebs vorne an der Tür einiges erzählen. Ist gerade mal vier Monate her, da hat ihm ein Gast das Bierglas ins Gesicht gehauen. Fast wäre ein Auge weggewesen. Nicht so dramatisch, findet er. Die in der Charité hätten das gut wieder hinbekommen. „Sieht doch wie eine Lachfalte aus.“ Er hängt viel zu sehr am Clärchens, um wegen so einer Lappalie Schluss zu machen.
Schliebs und Schmidtke – das ist die alte Ballhaus-Schule. Ersterer küsst den Damen die Hand, letzterer nimmt kein Trinkgeld von ihnen an.
Die Tür geht auf. Ein früherer Gast will ein Foto mit Schmidtke. Damals in den Achtzigern, als er noch bei der NVA, beim Wachregiment Feliks Dzierzynski war, hat er hier gerne verkehrt. Auch gute 25 Jahre her, aber der Garderobier erkennt den Thüringer. Der zeigt seiner Familie das Ballhaus. „Mensch, Clärchens müssen die doch gesehen haben!“
Das dachten in den 70er und 80er Jahren auch viele West-Berliner und Gastarbeiter. „Tripperhöhle“ wird das von der Stasi beinhart durchprotokollierte Ballhaus wegen seiner bis zur Prostitution florierenden Beziehungsanbahnungen da auch genannt.
Samstagnacht, die Orworms spielen Hot Chocolate, „You Sexy Thing“, der ganze Saal singt mit. Großraumdisko unterm Flimmerballon, wie die Diskokugel bei alten Ballhaus-Gästen heißt. Ein Herr im feinen Zwirn übt Breakdance für zwei Blondinen. Von rechts nähert sich ein Mann. Jungenhaft, schwarzes Westernhemd, Cola-Rum in der Hand, angesäuseltes Lächeln. „Was machst du da“, fragt er, „Tagebuch schreiben?“ In Clärchens Ballhaus ist es tatsächlich leicht, nicht allein zu bleiben.
Die Band donnert gerade „Another One Bites The Dust“ als sich ein Ehepaar, Mitte 50, im Gänsemarsch aufs Parkett wühlt. Es hat auch noch eine vom Alter gebeugte Großmutter im Schlepp.
Das ist das Ballhaus.
Und das Staunen darüber wirkt noch, da nähert sich von links ein Mann. Groß, schwarz, kurze Dreadlocks. Mit dem Klassiker „What’s your name?“ fängt auch im Mikrokosmos Clärchen wie überall auf der Welt das Angraben an. Das Merkwürdige daran: Nichts an diesen Begegnungen krampft oder nervt. Die Leute hier trauen sich was. Sie sind betrunken, sie lassen sich gehen. Und sie sind herzlich dabei.
Sonntag beim Tanztee ist die Nacht aus dem Saal gewaschen. Die Nachmittagssonne fällt zum Fenster herein, vom Hof weht Frühlingsluft. Frank Sinatra singt „New York State of Mind“. Gesetzte Paare swingen übers Parkett. Touristen bekommen glänzende Augen ob dieses einwandfreien Berlin-Gefühls. Gruppen beugen sich übers Kaffeegedeck.
„Tanzen Sie?“ fragt der Tischnachbar, ein höflicher Pensionär aus Schöneberg, der seit zwei, drei Jahren jeden Sonntag kommt. Die sorgfältig ondulierte Witwe aus Marzahn ein paar Tische weiter ist unzufrieden. „Ich gehe lieber wieder ins Café Keese, das hat mehr Niveau.“
Selbst Günter Schmidtke streift mit müder Miene in Zivil durchs Ballhaus. Das Tanzverbot der Nazis, die Bombe, die 1945 das Vorderhaus pulverisierte, die sozialistischen Schurigeleien gegen den Privatbetrieb, die Moden. Und es dämmert die Erkenntnis, ein Ballhaus, das muss gar keine Metapher sein. Es braucht keinen Überbau, keine Deutung. Nicht, solange es lebt. Nicht, solange getanzt wird. Nicht, solange es Prinzessinnen gibt.
So wie die da vorne. Hochgewachsen, die weißen Löckchen hochgesteckt, die Nägel rot, den grazilen Körper mit Pailletten und schwarzer Spitze bedeckt. Das ist Lona Jakob, Jahrgang 1922, die jeden Sonntag aus Lichterfelde herkommt. Sie müsse einfach tanzen, sagt sie. „Weil es Liebe, Freude, ja mein Leben ist.“ Ihr Beruf war es auch. Vor dem Krieg ist sie sogar mit Jopi Heesters im Admiralspalast aufgetreten. Clärchens Ballhaus kennt sie seit 1948, ein Jahr später hat es oben im Spiegelsaal zwischen ihr und ihrem Mann gefunkt. Leider jung verstorben, winkt sie ab.
„Sie tanzt wie eine Biene“, schwärmt der Pensionär aus Schöneberg, der sie eben aufgefordert hat.
Aus dem Nachmittag wird langsam Abend, „Que sera, sera, what ever will be, will be, the future’s not ours to see“, singt Doris Day. Das Lametta glänzt golden, die Walzerzentrifuge dreht sich.
Erschienen auf der Reportage-Seite.