Nervenkrieg bei Rot-Rot-Grün: Ein Jahr vor der Wahl gehen SPD und Grüne in Berlin aufeinander los
Pop-up-Radwege kassiert, Klimapaket gestoppt - die Stimmung bei R2G ist mies. Kommt es zum Bruch? In jedem Fall erwartet die Hauptstadt ein heftiger Wahlkampf.
Die vergangene Woche hat ein Schlaglicht auf die schlechte Stimmung in der rot-rot-grünen Koalition in Berlin geworfen. Die Pop-up-Radwege wurden vom Verwaltungsgericht kassiert, das Klimapaket durch Veto des Regierenden im Senat gestoppt.
SPD und Grüne stehen sich bei politischen Vorhaben mal wieder gegenseitig auf den Füßen. Nicht zum ersten Mal. Keine guten Vorzeichen für das letzte Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl, die wohl im September 2021 stattfindet. Wird überhaupt noch regiert?
Der rot-rot-grüne Senat könnte die Zeit durchaus nutzen, um sich zu beweisen und sein Regierungsprogramm im Interesse der Wählerinnen und Wähler besser zu erfüllen. Doch es besteht ein Restrisiko, dass das Bündnis vorzeitig platzt. Auch wenn dies nicht geschieht, können die Berliner davon ausgehen, dass ihnen ein heftiger, vielleicht sogar hässlicher Wahlkampf bevorsteht, der die Senatspolitik überlagert.
Ein erbitterter Kampf um Wählerstimmen, der aus Sicht der vorläufig noch stärksten Regierungspartei SPD am 19. Dezember eingeläutet wird, wenn Bundesfamilienministerin Franziska Giffey zur Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten für die Berlin-Wahl gekürt wird.
Aber auch Grüne und Linke machen sich bereit. Bis zum Frühjahr werden alle ihre Wahlprogramme präsentieren und ihre wichtigsten Akteure in Stellung bringen. In diesem Getümmel wird der Senat um den noch Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) Mühe haben, den Wählerauftrag zu erfüllen, nämlich ordentlich zu regieren. Er muss beweisen, dass er noch keine „Lame Duck“ ist.
Die To-Do-Listen sind lang
Sein Kabinett hätte eigentlich auch alle Hände voll zu tun: Die Corona-Pandemie wird nicht mit der ersten Impfung enden. Die wirtschaftlichen, finanziellen, gesundheitlichen und sozialen Folgen müssen weiter gemildert und dann beseitigt werden. Das allein ist ein volles Programm. Die nötige Vermehrung der Kitaplätze, die Modernisierung der Schulen bleibt eine Daueraufgabe.
[Was hat Rot-Rot-Grün erreicht, was versäumt? Eine ausführliche Bilanz lesen Sie hier in unserem Tagesspiegel-Plus-Angebot.]
Gleiches gilt für den Klimaschutz und die bisher nicht realisierte Wende in der Verkehrspolitik. Auch die weitere Profilierung Berlins als Ort von Kultur und exzellenter Wissenschaft verträgt keinen Aufschub. Selbst wenn viele Bürger mit dem von Rot-Rot- Grün Erreichten nicht zufrieden sind, verstünden sie es noch weniger, wenn die Koalition aus rein parteipolitischen Gründen von heute auf morgen auseinanderbrechen würde. Vorgezogene Neuwahlen – was wäre das für ein Kuddelmuddel?
Könnte Giffey einspringen?
Denn es reichte ja nicht, dass Müller vorzeitig genervt das Handtuch wirft. Grüne und Linke versichern schließlich täglich, dass sie auf keinen Fall bereit wären, in der noch laufenden Wahlperiode Giffey als neue Regierungschefin zu wählen.
Aus deren Umgebung ist übrigens zu hören, dass sie daran selbst nicht interessiert sei. Sich kurzerhand unvorbereitet ins harte Regierungsgeschäft in einer äußerst streitlustigen Koalition zu stürzen, birgt nämlich ein sehr hohes Risiko.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über Berlins wichtigste Nachrichten und größte Aufreger. Kostenlos und kompakt: checkpoint.tagesspiegel.de]
Den vorzeitigen Bruch, ist in Koalitionskreisen zu hören, provoziere derzeit nur der SPD-Fraktionschef und designierte Landesvorsitzende Raed Saleh und dessen engeres Umfeld. Für diese These spricht, dass fast alle aktuellen Koalitionskonflikte ihren Ausgangspunkt in der SPD-Fraktion haben.
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Es tobt ein Nervenkrieg, vor allem zwischen Grünen und Sozialdemokraten (die in Umfragen sechs bis sieben Prozentpunkte hinter Grünen und CDU liegen). Die Strategie der SPD: die Umweltpartei und deren teilweise schwächelndes Führungspersonal zu desavouieren und sich selbst als bessere, soziale Klimaschützer zu profilieren.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Grünen bleiben auch nicht höflich und beklagen sich über die Sozialdemokraten, die Konflikte „mit großer Brutalität aufreißen“. Wer in dieser für die gesamte Koalition gefährlichen Lage noch Ruhe und Geschlossenheit bewahrt, könnte am Ende der Sieger sein. Vielleicht gehört zu den Siegern sogar Michael Müller, der zwar nicht mehr viel zu gewinnen hat, aber den Senat mit halbwegs ruhiger Hand durch das turbulente Wahljahr führen könnte.