Missbrauchsskandal im Canisius-Kolleg: Ein Jahr danach: Reise in die Freiheit
Matthias Katsch war Schüler auf dem Canisius-Kolleg und wurde Opfer sexueller Gewalt. Jahrzehntelang hat er geschwiegen, dann gründete er eine Opferinitiative. Die vergangenen zwölf Monate haben schlimme Erinnerungen aufgewühlt und neue Abstürze gebracht. Eine Bilanz.
Sie wollten sich treffen und gemeinsam die Druckfahnen der Schülerzeitung durchgehen. Matthias Katsch war damals, 1977, gerade 14 Jahre alt und Schüler auf dem Canisius-Kolleg. Er freute sich auf den Nachmittag. Denn er arbeitete gerne an der Zeitung. Außerdem mochte er Pater S., der ihm das Treffen vorgeschlagen hatte. Er hatte ihm schon oft bei den Hausaufgaben geholfen, mit ihm zusammen machte das Lernen Spaß.
Heute ist Matthias Katsch 47. Er trägt ein fein kariertes Hemd und ein schwarzes Jackett. Sein Händedruck ist fest, er spricht eloquent und signalisiert: Ich bin im Beruf und im Leben angekommen. Dass das so ist, liegt auch an den vergangenen zwölf Monaten.
Wenn Matthias Katsch vor einem Jahr über das sprechen sollte, was an jenem Nachmittag vor fast 35 Jahren geschah, musste er sich sehr überwinden. Er stockte immer wieder und blickte zur Seite und zu Boden. Heute kann er äußerlich ruhig und gelassen schildern, wie Pater S. ihm zunächst sein Arsenal an Schlaginstrumenten zeigte: Teppichklopfer, Stock, Schnur, Fliegenklatsche. Wie Pater S. verlangte, dass er die Hose runterzog und wie er mit dem Prügeln begann. Während er zuschlug, keuchte der Pater. Damals habe er das nicht einordnen können, sagt Katsch. Heute weiß er, dass ihm sexuelle Gewalt angetan worden war – so wie vielen anderen Mitschülern am Canisius-Kolleg in den 70er und 80er Jahren auch.
Pater S. prügelte ihn und plauderte danach mit seinen Eltern
Vor einem Jahr hatte Pater Klaus Mertes, der heutige Rektor des Gymnasiums in der Tiergartenstraße, in einem Brief an 600 ehemalige Abiturienten von Fällen des Missbrauchs an der Schule geschrieben und Betroffene aufgefordert, sich zu melden. Er löste damit große Betroffenheit aus und einen der größten Kirchen-Skandale der vergangenen Jahrzehnte. Mittlerweile haben sich mehr als 200 ehemalige Absolventen von Jesuiten-Schulen gemeldet.
Er habe damals geweint und gebrüllt, sagt Matthias Katsch heute. Es half nicht. Es war ein Feiertag, und der Musiksaal lag am Rande des Grundstücks, seine Schreie konnten nicht bis zu den Wohnräumen der anderen Patres dringen. Die Prügel umfasste mehrere „Runden“ und dauerte bis zum Abend. Sein Gesäß war blutig geschlagen, grün und blau unterlaufen. Der Pater salbte die Wunden, gab ihm ein Schmerzzäpfchen, fuhr ihn nach Hause und plauderte noch ein bisschen mit den Eltern im Wohnzimmer.
Der Prügel-Orgie war kein Streit vorausgegangen, der Schüler hatte nichts falsch gemacht. „Es war unfassbar“, sagt Matthias Katsch. Wem sollte er davon erzählen? Wer würde ihm glauben? Die Eltern, die die Patres verehrten? Den anderen Lehrern? Seinen Mitschülern, denen so etwas sicherlich noch nie passiert war? Matthias Katsch schwieg und spaltete das monströse Erlebnis in seinem Kopf ab wie in einer Kapsel, die nichts mehr mit ihm zu tun haben sollte. Jahrzehnte vergingen. Er vergaß.
Katsch hatte Scham- und Schulgefühlte und wurde depressiv
Doch was er auch tat, enorme Scham- und Schuldgefühle meldeten sich sofort – auch wenn es gar nichts gab, woran er hätte schuld sein können. Katsch wurde depressiv und beendete das Studium mit Mühe. Therapeuten blieben ratlos. Keiner stieß zum eigentlichen Grund vor.
Matthias Katsch spricht jetzt immer schneller. 2002 erzählte ihm ein früherer Schulfreund vom Canisius-Kolleg, dass er dort missbraucht worden sei. Da öffnete sich die Kapsel. Auf einmal war der schlagende und keuchende Pater S. wieder da. Aber er konnte die Erinnerung nicht einordnen und verdrängte sie erneut.
Am 31. Oktober 2009 schrieb ein früherer Abiturient anonym eine Mail an andere Mitschüler und berichtete von den sexuellen Übergriffen, die er am Canisius-Kolleg erlitten hatte. Sofort wurde er per Mail beschimpft, er wolle wohl den Ruf der Schule beschädigen. Da schaltete sich Matthias Katsch ein und erzählte von seinen Erfahrungen. Jetzt war die Kapsel endgültig geplatzt. Anders als sein Freund gab er sich mit Namen zu erkennen. „Es war mir wurscht, wer was über mich dachte“, sagt Katsch heute, „es musste alles raus.“ Jahrelang war er bemüht gewesen, nicht aufzufallen, sich anzupassen, zu funktionieren. Endlich schwiegen Scham und Schuld.
Am 14. Januar 2010 trafen sich Katsch und zwei frühere Mitschüler mit Pater Mertes, der schrieb daraufhin seinen Brief an ehemalige Abiturienten und löste eine Lawine aus. Die ersten Wochen nach dem Brief habe er „wie im Rausch“ erlebt, sagt Matthias Katsch. Jeden Tag offenbarten sich weitere Mitschüler, auch an anderen Jesuiten-Schulen und kirchlichen Einrichtungen wurden Vorwürfe laut, Zeitungen und Fernsehsender berichteten. Schnell war klar, dass mindestens drei Serientäter an den Jesuitenschulen aktiv waren und dass der Orden und die Kirche die Verbrechen systematisch vertuscht hatten.
„Wir hatten die naive Hoffnung, dass Reden hilft“
Katsch und seine Freunde versuchten, Kontakt zu den Opfern herzustellen, sich zu vernetzen, und rasch Forderungen an den Orden und an die Kirche auf den Weg zu bringen – getrieben von der Sorge, die Medien könnten sich morgen einem anderen Thema zuwenden und sie, die Betroffenen, würden schnell wieder vergessen werden. Seine Gedanken wirbelten und drehten sich oft in jenen Tagen im vergangenen Frühjahr, sein Herz hämmerte. Jedes Gespräch mit Mitschülern, jeder Zeitungsartikel wühlte die Erinnerungen auf. Um sich zu beruhigen, trank er, oft mehr als ihm guttat.
Matthias Katsch lebt heute in Süddeutschland, hat aber oft in Berlin beruflich zu tun. An diesem Nachmittag im Januar 2010 sitzt er in einem Besprechungszimmer des Tagesspiegels. Ein Café wäre doch zu öffentlich gewesen, um solch private Dinge zu besprechen. Katsch greift zum Wasserglas. Er habe sein Problem in den Griff bekommen, sagt er. Von einem Tag auf den anderen habe er keinen Alkohol mehr angerührt. Das sei extrem hart gewesen. Aber anders hätte er das Jahr vermutlich nicht überstanden.
Katsch ist Dozent und Managementtrainer. Aber ans Arbeiten war in den vergangenen zwölf Monaten nicht zu denken. Katsch und andere Absolventen der Jesuitenschulen gründeten den Verein „Eckiger Tisch“ – als unbequemes Pendant zum „Runden Tisch“, den die Bundesregierung ins Leben gerufen hatte. „Dann taten wir etwas, bei dem Therapeuten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen“, sagt Katsch und lehnt sich entspannt im Stuhl zurück. Die Opfer trafen die Vertreter der Täter-Organisation. Die Patres Klaus Mertes vom Canisius-Kolleg, Johannes Siebner von St. Blasien, Stefan Dartmann, der Chef der deutschen Sektion der Jesuiten, sogar ein früherer Rektor vom Canisius-Kolleg waren gekommen. „Wir hatten die naive Hoffnung, dass Reden hilft“, sagt Katsch. Und es half.
Wut und Hilflosigkeit lösten sich in Anklagen und Tränen auf
Über Jahrzehnte aufgestaute Wut und Hilflosigkeit lösten sich in Anklagen und Tränen auf. Man habe den Patres angemerkt, wie getroffen sie waren. Das habe gutgetan. Auf einmal war der Orden auch bereit, über Entschädigungszahlungen nachzudenken. Danach sei er „wie auf Wolken geschwebt“, sagt Katsch. „Wir hatten den Ball zurückgespielt, endlich hatten wir auf das geantwortet, was uns vor 30 Jahren angetan wurde.“ Er fühlte sich so frei.
Das Gefühl hielt nicht lange an.
Monate vergingen, der Sommer kam und verblühte. Katsch und die anderen Betroffenen warteten auf ein Entschädigungsangebot der Jesuiten. Es kam nicht. Am 16. September äußerte sich der Jesuiten-Chef – in einem Zeitungsinterview. Der Orden denke an eine vierstellige Summe. „Dass er das in einem Interview gesagt hat und nicht zuerst uns, war wie ein feindlicher Akt“, sagt Katsch. Das zweite Treffen zwischen Betroffenen und Patres am 18. September fiel ungleich kühler aus als das erste.
Katsch hielt die Eingangsrede. Er wollte seine Enttäuschung klar zum Ausdruck zu bringen, nicht einknicken wie so oft in seinem Leben, die lähmende Scham endgültig abschütteln. Aber er traute seiner neuen Entschlossenheit nicht so recht. So schrieb er sich die Formulierungen vorher auf, „damit ich sie nicht beim Vortragen abschleife“. Katsch holt das Manuskript aus der Tasche. „Ihr Angebot ist eine Verhöhnung des Leidens der Opfer“, steht da. „Wir fordern Sie auf, sich endlich auf die Sicht der Opfer einzulassen. Es geht nicht darum, wie viel Sie bluten müssen, es geht darum, was die Opfer brauchen.“ Katsch forderte 82 373 Euro pro Person – der Durchschnitt der Schmerzensgelder, die in den vergangenen Jahren in Deutschland und Österreich durch Gerichte für Schäden der Seele festgesetzt worden waren. Da riss der Faden. Ein weiteres Gespräch zwischen Eckigem Tisch und Jesuiten gab es nicht.
Ein Jahr ändert noch kein Leben
„Wir haben immer noch das Gefühl, es geht um alles Mögliche, aber nicht um uns“, sagt Katsch. Das liege nicht nur an der bislang ausgebliebenen Entschädigung durch den Orden. Die Bundesregierung lade Vertreter von Schulen, Kitas und Sportvereinen zum Runden Tisch ein – aber keine Opfer. Die Bischöfe hätten nie auf das Gesprächsangebot des Eckigen Tischs geantwortet, der Vatikan nie erklärt, warum er vor 20 Jahren keine staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen Prügel-Pater S. eingeleitet hatte, als dieser in einem Schreiben seine Verbrechen zugegeben habe. „Wo sind die großen Rituale der Kirche“, fragt Katsch. Es könne nicht mit den Erklärungen getan sein, die Bischöfe auf Pressekonferenzen abgeben. Anders als viele andere Opfer hat Matthias Katsch seinen Glauben – auch den an die Institution Kirche – nicht aufgegeben. Umso wütender ist er. Ausdruck davon ist der Essay, den wir auf der nächsten Seite dokumentieren.
Er habe sich in den vergangenen Tagen im Internet angeschaut, wie teuer Weltreisen sind. Er würde gerne für eine Weile verschwinden. Aber er könne sich das nicht leisten, schon gar nicht nach diesem Jahr. Katsch zieht die Augenbrauen zusammen und bilanziert: Mindestens 20 000 Euro Umsatz seien ihm entgangen, weil er viel weniger gearbeitet habe als sonst. „Und die Jesuiten wollen uns 5000 Euro geben. Einfach lächerlich.“
Matthias Katsch hat in den vergangenen zwölf Monaten begriffen, was ihm angetan wurde, und er hat sich ein Stück weit davon befreit. Er hat gelernt, aufzustehen und Nein zu sagen. Aber ein Jahr ändert noch kein Leben. Und so möchte Matthias Katsch, der Versöhnliche, der Ausgleichende, das Gespräch nicht so negativ beenden. Dieses Jahr sei ein Gewinn gewesen, sagt er, trotz der Abstürze und Enttäuschungen. „Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass alles passt. Dass ich endlich bei mir selbst angekommen bin.“
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