Saisoneröffnung: Ein Herz und eine Vespa
Ein Riesenrudel Motorroller sauste gestern zur Saisoneröffnung durch die Stadt: Die Vespa-Fans rollerten an.
So etwas hatte die Kassiererin in der Tankstelle noch nicht gesehen: „Guck mal, lauter alte Motorroller“, rief sie ihrer Kollegin zu, während sich alle Augen von Personal und Kunden in die gewiesene Richtung wandten. Urplötzlich waren 150 Vespafahrer aufgetaucht und kurvten um den Rathenauplatz. Das Geknatter ihrer meist betagten, teils aufwändig restaurierten oder umgebauten Roller verdrängte den üblichen Straßenlärm. Die Luft roch nach öligem Zweitaktgemisch.
„Anrollern“ nannte sich das Ereignis, zu dem sich die Szene am Sonntag per SMS, Flüsterpropaganda und Flyer selbst geladen hatte. Auf dem Winterfeldtplatz ging es los, gegen Mittag wurden kollektiv die Kickstarter getreten. Erster „italienischer“ Ampelstart war am Wittenbergplatz: Während verdutzte Autofahrer nicht recht wussten, wie ihnen geschah, drängelten sich die Vespas vor bis ganz nach vorn und sausten bei Grün mit einem ohrenbetäubenden Motorenkonzert los.
Alte Vespas des italienischen Herstellers Piaggio, spätestens seit dem Hollywood-Film „Ein Herz und eine Krone“ mit Gregory Peck und Audrey Hepburn ein Kultobjekt, waren eindeutig in der Überzahl. Etliche Oldtimer aus den 50er und 60er Jahren waren darunter, einige detailgetreu restauriert, andere eher auf Leistung und Krawall getrimmt – Spoilersitze, freiliegende Federbeine und Stoßdämpfer, dicke Auspuffrohre, durchdringendes Röhren. Das Motto: Erlaubt ist, was gefällt. Die Rollergemeinde gibt sich darin ganz gelassen. Wichtiger als Originaltreue der Restaurierungs- und Umbauten war eindeutig der Spaß daran, für einen Tag die Straße zu beherrschen.
Wo immer die Karawane auftauchte - nicht nur die Tankstellenkassiererin konnte einfach nicht wegsehen. Das ging den Spaziergängern an Koenigsallee, Mexikoplatz und Havelchaussee nicht anders, ebenso wenig den Harley-Bikern auf der „Spinnerbrücke“, wo die Vespas im Konvoi vorbeiknatterten. Den Großen Stern umkreiste der Rollerschwarm gleich mehrmals – was den kleinen „Fuffis“ mit gesetzlicher Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h Gelegenheit gab, zu den schnelleren Kollegen aufzuschließen. Dann über die Straße des 17. Juni bis zum Reichstag und als Ehrenrunde durch den Tiergartentunnel, in dem sich mal wieder kaum ein Auto aufhielt.
Angemeldet war die Veranstaltung nicht – was aber niemanden zu stören schien. Der einzige Kontakt zur Polizei bestand in einem Funkwagen, der den Vespas im Regierungsviertel entgegenkam und dessen Besatzung so reagierte wie die zivilen Passanten: gucken, staunen, freundlich winken.
Christoph Lemmer
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