Hyperlokaler Pankow-Kiez: Ein Berliner Kiez klettert nach Norden
Der Tagesspiegel hat eine Pankow-Seite gestartet. Denn im Norden vom Osten Berlins entwickelt sich eine neue Mischung: Bürgerlich. Familiär. Mit viel Vergangenheit und einer Menge Zukunft.
Wenn die Sonne untergeht, beginnt in Pankow das große Erwachen. Stunde um Stunde, Minute für Minute, in immer schnellerem Takt wird Berlins bevölkerungsreichster Bezirk in den Schlaf gedonnert von den Fliegern, die den Immer-noch-Flughafen Tegel mit Touristen bedienen. Als Pankow noch der wichtigste Bezirk der Hauptstadt der DDR war – zunächst sogar als Sitz der Regierung (was dem Bezirk in West-Berlin den hingerotzten Namen „Pankoff“ eintrug) –, damals, als der Norden der Stadt noch einen Osten und einen Westen hatte, blickten die Menschen nach oben, um den Flugzeugen hinterherzuschauen und ihre Sehnsucht an die Flügel zu heften, die über alle Grenzen hinwegflogen.
Immerhin, aus der Luft ist Pankow ganz gut zu erreichen. Auf Schienen und Straßen wird es schon schwieriger. Dauerbaustellen blockieren den Weg aus Prenzlauer Berg in Berlins Ausflugsbezirk, dessen weitläufige Parks noch immer Wochenende für Wochenende zum Flanieren einladen. Nirgendwo kann man so schön durch das Laub rascheln wie hier im Norden des alten Ostens. Vielleicht auch deshalb wird Pankow, das von U- und S-Bahnen nur marginal angefahren wird und dessen Zentrum eher ein dörflicher Anger (immerhin jetzt mit modernem Einkaufszentrum) ist, so sehr von jungen Familien überrannt wie kaum ein anderer Bezirk. Rund um den Bahnhof Pankow eröffnet eine Privatschule nach der nächsten ihr lukratives Geschäft, und im selbst ernannten Florakiez schießen die Kindercafés neben den Baugruppen aus dem Betonboden.
Mit einem Kind wohnt man in Prenzlauer Berg, mit zwei Kindern zieht man hoch nach Pankow. Mit dieser Formel lässt sich wohl am treffendsten die rasante Entwicklung des namengebenden Stadtteils im Bezirk Pankow beschreiben – der ja viel größer ist als sein Kern und weit bis hinüber zum Weißen See reicht. Immer mehr neue Bürger mit Nachwuchs an der Hand bevölkern in Pankow neue Reihenhaus- und Townhaussiedlungen oder beziehen frisch sanierte Altbauwohnungen, die - so lange TXL noch offen ist – bezahlbar sind.
Der Boom hoch im Norden, der bisher leider noch keine Auswirkungen auf das gastronomische Angebot hat, bleibt nicht ohne Folgen: Die Immobilienpreise im Kiez haben sich in den vergangenen zehn Jahren praktisch verdoppelt. Selbst scheinbar unattraktive Grundstücke an belebten Straßen wie der Wollankstraße, auf denen jahrelang nur Unkraut wucherte, werden nun mit hochwertigen Wohn- und Geschäftshäusern bebaut. Und so wird die Gegend nördlich des Prenzlauer Bergs wie ein Puzzle Stück für Stück anders zusammengefügt. Es entsteht eine neue Pankower Mischung: Letzte Fans der DDR leben Tür an Tür (weiter nördlich in Niederschönhausen oder Buchholz Tor an Tor) neben jungen Vätern und Müttern, manch Künstler und Lebenskünstler ist noch geblieben. Zwar galt der Stadtteil schon zu DDR-Zeiten als bürgerlich, doch hier lebten auch viele Funktionäre, Wissenschaftler und Künstler, kurz die Elite. Sie schickten ihre Töchter und Söhne auf die Gymnasien, in denen es schon vor der friedlichen Revolution zum Eklat um freie Meinungsäußerungen an der Wandzeitung kam. Auch die Opposition hatte ihren festen Platz; sie traf sich in der Kirche im Zentrum, deren hohe Türme schon von Weitem von Pankows langer Geschichte künden.
Von viel Vergangenheit zeugen auch Klassiker der DDR-Literatur wie „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf und „Stille Zeile 6“ von Monika Maron. Und Johannes R. Becher ersann hier einst die DDR-Nationalhymne, deren verheißender Text („Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland“) schnell verboten wurde. Heute schätzen sich gerade westdeutsche Zuzügler besonders glücklich, ein Haus in den alten verwunschenen Intelligenzsiedlungen ergattert zu haben. Dass manch älterer Nachbar sich noch ganz selbstverständlich „Solidarität und Freundschaft“ als Grundlage des künftigen Zusammenlebens wünscht, gehört zum Lokalkolorit.
Doch anders als im Prenzlauer Berg sind die Westler in Pankow keineswegs in der Übermacht. Die Senioren der Stillen Straße kämpfen lautstark um ihre alte Heimat, und bei den Einschulungsfeiern finden sich die Kinder in Klassen wieder, deren Eltern aus allen Teilen Deutschlands zusammenkommen. Und egal, wo diese aufgewachsen sind, meist sind es Angestellte und Akademiker – gehobene Mittelschicht, das verbindet dann doch. Anti-Schwaben-Grafitti wurden in dieser Gegend jedenfalls noch nicht gesichtet. Auch nicht am Freibad, das an manchem zu heißen Sommertag in der Hand der Kids vom Wedding zu sein scheint.
In Pankows Schulen aber sind ausländische Kinder und Migranten noch immer deutlich unterrepräsentiert. Meist sind es Diplomatenkinder oder vereinzelte türkische oder arabische Kinder aus den angrenzenden Stadtbezirken, die von ihren Eltern ganz bewusst hier eingeschult werden. Problemschulen sehen anders aus. Nicht wenige Eltern schätzen gerade das.
Komm, Karlineken, komm Karlineken komm – wir woll’n nach Pankow geh’n ... Der Ausflugs-Gassenhauer des ganz alten Berlins, als Pankow nur per Kutsche über Sandwege erreichbar war und unglückliche Königskinder im Schloss Schönhausen ausgelagert wurden, passt zur neuen Realität. Doch viel einfacher ist das Herkommen über die Jahrzehnte nicht geworden. Wer morgens mit dem Auto oder der Straßenbahn aus Pankow rausfahren will oder abends wieder zurück, verzweifelt regelmäßig. Und fragt sich, wie es der Bezirk immer wieder fertigbringt, auf den wenigen wichtigen Verkehrsadern gleichzeitig Baustellen einzurichten. Fast ist die Buddelei schon zu einem Markenzeichen Pankows geworden wie das traditionelle Herbstfest an der Panke. Und vielleicht die etwas spezielle Gastronomie mit Kneipen, die „Kummerkasten“ oder „Abseits“ heißen. In mancherlei Beziehung ist Pankow eben Vorstadt. Oder positiv gesagt: Hier lässt sich eine Menge entwickeln. Zum Beispiel mal wieder ein großes Kino; schließlich erfand der Pankower Max Skladanowsky 1879 hier den Film. Inzwischen leuchtet nur noch in Niederschönhausen der kleine feine „Blaue Stern“.
Die Neubürger gewöhnen sich an das zuweilen dörfliche Flair – mal schneller, mal langsamer. Aber so haben sie wenigstens einen guten Grund, ab und an mal in Prenzlauer Berg vorbeizuschauen. Der alte Künstler- und Szenekiez (selbst im Wandel zum Kinderspielplatz) liegt schließlich gleich um die Ecke – und gehört noch zum Großbezirk, der den stolzen Namen Pankow trägt. Benannt nach einem kleinen Rinnsal, der Panke.