Frühling in Berlin: Ein Beet mit Kroken
So zart ist der Berliner Frühling: Kurze Szenen aus einer erwachenden Stadt.
Die Namensfrage
Nach einem nicht enden wollenden Winter recken die ersten Frühlingsblumen ihre Köpfe durch die Vorgartenbeete in den Ku'damm-Seitenstraßen. Herr und Frau, ihr Arm unter seinem eingehakt, spazieren, nein, sie flanieren um den Savignyplatz. Als sie vor einer Reihe lilafarbener Blüten ankommen, bleibt er stehen. Und sie, zwangsweise, auch.
"Wenn aus Globus Globen wird, dann sollte aus Krokus Kroken werden."
Sie denkt nach.
"Es heißt aber Krokusse, Gerd."
"Mir wäre es lieber, wenn es ein Beet voller Kroken wäre."
"Was dir lieber wäre, ist der deutschen Sprache recht egal, mein Herz."
Gerd schweigt und grübelt.
"Ein Beet mit Kroken. Das bleibt jetzt so."
"Wir bleiben auch so, oder?"
"Natürlich, Gitte. Und jetzt schau dir die schönen Kroken an!"
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In der S-Bahn
Neben mir sitzt ein Paar. Wahrscheinlich Fernbeziehung. Er mit Rollkoffer, sie mit kullernden Tränen. Er dreht ihr während der gesamten Fahrt den Rücken zu. Ein ungeklärter Streit von letzter Nacht? Von heute Morgen? Ihre zaghafte Annäherung lässt er nicht zu, wirkt trotzig und wütend. Tränen und Rotze sammeln sich in ihrem Rollkragen. Wann werden sie sich wieder sehen? Sie weiß es noch nicht, da er „mal gucken“ antwortet. Die S-Bahn erreicht den Hauptbahnhof, sie stehen gemeinsam auf, er geht vor, steht auf dem Bahnsteig. Sie zögert, er bemerkt es nicht.
Erst, als er sie sucht, sich umdreht und den fahrenden Waggon sieht. Mit ihr drin.
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Vater und Tochter
Ella, das wunderschöne vierjährige Mädchen mit dem dunkelbraunen Bob, dem olivfarbenen Teint und hellblauen Augen, sitzt hinter mir auf den gepolsterten Stufen der Milchhalle am Gipsdreieck in Mitte. Es ist Papatag. Er sitzt neben ihr, liest in einer Zeitung und beobachtet sie dabei, wie sie genüsslich eine Waffel mit Puderzucker isst. Dabei massiert er ihre nackten Füße, deren Haut so eben ist, als hätten sie niemals bisher den Boden berührt. Jeder einzelne ihrer zehn kleinen Zehen wird eindringlich geknetet, die Knöchel mit ein wenig Druck bearbeitet. Ab und zu schaut sie zu ihm hoch, fragt ihn etwas, er antwortet geduldig auf Französisch, setzt dabei die Massage fort. Obwohl ich mich in der Stunde dieses Szenarios in meinem Rücken mit meiner Freundin unterhalte, kann ich nicht aufhören hinzuschauen. Mit dem Gedanken, dass Ellas Vater ihr mit Momenten dieser Art unauslöschliche Erinnerungen pflanzt, die sie in ferner Zukunft erden werden und Wurzeln schlagen lassen.
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An einer Bushaltestelle
Aus dem Busfenster beobachte ich einen Mann, der an der menschenleeren Bushaltestelle am Adenauer Platz sitzt. Blaues, knittriges Hemd, darüber ein grob gestrickter Pullunder, über seinen Beinen eine dunkelbraune Hose, an den Füßen derbe Lederschuhe. Seine Haut ist gegerbt und die Furchen in seinem Gesicht erzählen von Besuchen am Panamakanal, Arbeit unter gnadenloser Mittagssonne und Öl, viel Olivenöl zu jeder Mahlzeit. Er ist alt, aber jung genug, um mit wachen Augen seine Umgebung wahrzunehmen. Er sitzt, wartet, und raucht. Zieht kurze, intensive Züge an einer Zigarette, die fest zwischen Daumen- und Zeigefinger sitzt. Mit seiner furchigen Haut, den blitzenden Augen und dem grob gestrickten Pullunder lässt er sich von der allmorgendlichen Hektik um ihn herum nicht aus der Ruhe bringen. Kurz bevor unser Bus die Türen schließt, steht er auf, zerdrückt die noch glühende, halb aufgerauchte Zigarette mit seinen Fingerspitzen und lässt sie in seiner Hosentasche verschwinden. Mehr Moment geht nicht, denke ich mir. Mehr Moment geht nicht.
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Höfliche Wasser
Früh morgens im Stadtbad Oderberger.
Zwei ältere Herren, man kennt sich flüchtig, treffen sich am Backenrand. Das Fleisch ist tendenziell schlaff, jedoch verhältnismäßig straff für ihr Alter. Die engen Badehosen, eine blau, die andere rot, bedecken das Nötigste.
Das kernsanierte Bad gehört mittlerweile zu einem Hotel. Was einst ausschließlich den Schwimmern gehörte, dient heute primär zum Vergnügen gut zahlender Gäste. Was blieb, ist der Pool. Was verschwand, sind die Bahnen. Nun stehen die Herren, verdutzt, knietief im lauwarmen Wasser und scheinen wortlos ihren Schwimmbereich auszuloten. Man einigt sich. Rot links, blau rechts.
Und Deutschland wäre nicht Deutschland, das alte Berlin wäre nicht das alte Berlin, wenn man auch beim Schwimmen, fast nackt, auf seine Manieren nicht verzichten würde.
"Sie zuerst, Herr Doktor!"
"Danke, Herr Wagner."
"Keine Ursache, Herr Doktor."
Man schwimmt. Vorsichtig, höflich, und jeder in seiner gedanklichen Bahn.
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Frühjahrsmüde
Der Bus ruckelt sich langsam über die Oranienstraße. Es ist sieben Uhr dreißig, die Zeit der Schulkinder, der übernächtigten Eltern und überarbeiteten Arbeitnehmer. Ein Kind, ein kleines Mädchen mit straffem Pferdeschwanz und hellblauem Wollmantel, lehnt am Fenster. Ihre Augen fallen immer wieder zu, ihre rechte Hand liegt in der Linken ihrer Mutter.
"Mäuschen, nicht einschlafen. In zwei Stationen müssen wir raus."
"Ich kann nicht aussteigen, Mama."
"Aber wieso denn?"
"Ich bin sehr frühjahrsmüde."
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Am Olivaer Platz
Dunkelblaue Cordhose, polierte Lederschnürer, ein feiner Wollmantel, dessen Nähte tadellos an den leicht gebeugten Schultern enden. Der ältere Herr, der bereits den Kurfürstendamm in seinem Wirtschaftswunderglanz gekannt haben muss, steigt am Olivaer Platz aus dem Doppeldeckerbus und verweilt, noch unter einem teuren Schirm stehend, an der großen Kreuzung. Wer ihn beobachtet, wird erkennen, dass er jenseits der Jahre ist, die den Takt vorgeben. Und während um ihn herum die Menschen ihren Regenschirm noch tiefer ins Gesicht halten, schaut er an seinem vorbei in den grauen Himmel.
Und streckt für einen kurzen Moment seine Zunge raus.
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Im Café
Am Nachbartisch in einem Café in der Clausewitzstraße sitzt ein altes Paar. Vor ihnen dampfen zwei Tassen Schwarztee. Sie schweigen das Schweigen der Jahre jenseits der goldenen Hochzeit. Er schaut bedrückt minutenlang aus dem bodentiefen Fenster, sein Blick fixiert die große Kastanie. Sie legt die Hand auf seine. Zwei Hügel geschwollener, blauer Adern. In der Mitte ein Tal aus schlaffer Haut.
„Sei nicht traurig, Richard“.
„Ja, ist gut.“
Er lächelt. Sie lächelt.
Sie trinken ihren Tee.
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Zum Abschied
"Lass nicht los, mein Kind!", denkt sie sich, während sie nach der Hand ihres Mannes sucht. Sechzig Kinderfüße laufen aufgeregt vor einem Reisebus hin und her, dessen summender Motor die nahende Abfahrt ankündigt. Das erste Mal loslassen, das erste Mal gehen lassen, das erste Mal ohne Gutenachtgeschichte. Das erste Mal Klassenfahrt. Über den lachenden Köpfen der Eltern, die tapferer sein müssen als ihre nun so großen Kleinen, schwirren Bilder. Der erste Schrei, der erste Zahn, der erste Streit. Stattlichen Vätern steht hier, vor dem steinernen Bau aus der letzten Jahrhundertwende am Koppenplatz, eine Jahrhundertaufgabe bevor. Lächeln, das Gesicht streicheln, ein Kuss zum Abschied, wenn er zugelassen wird, winken. Momente, die einige Meter neunzig zum Wanken bringen. Tränen sind den Noahs, Lucas und Luisas vorbehalten. Insgeheim wünschen sie sich, dass sie weinen, nur ein bisschen. Heimweh haben, nach Mama und Papa. Weil Papa und Mama Kindweh haben, nach Paula, Victor und Luna. Jetzt schon, obwohl der Bus noch steht. Wo ist die Zeit nur hin? Eben noch Frühchen, jetzt Schulkind. Je lauter die Kinder werden, desto leiser werden ihre Eltern. Tapfer sind sie. Aber im Büro, zu Hause in der Küche, auf dem Bett ihrer Kleinen sitzend, werden sie seufzen. Über die Bettdecke streichen, die Stille nicht genießen können. Dabei war es doch das, was sie sich vornahmen. Gestern noch, als sie nicht wussten, was Klassenfahrt bedeutet. Auf einmal geht es schnell: Durchzählen, alle rein. Kampf um die besten Plätze. Die Jungs, ganz hinten, klopfen gegen die Scheibe. Der Fahrer schnauzt, die Mädchen tuscheln, die Lehrer stöhnen. Und die Eltern, sie stehen aufrecht. Bis der Bus die erste Ecke erreicht.
Linda Rachel Sabiers ist gebürtige Kölnerin und lebt seit neun Jahren als Autorin und Texterin in Berlin. Mehr von ihr auf Facebook.
Linda Rachel Sabiers