Berlin: Draußen nur Kannen!
Sobald die Sonne scheint, ist auf Gehwegen vor Lokalen kaum noch ein Durchkommen. Eine einzige Fußgängelei! Dieser Berlinblockade ist selbst mit alliierten Kiezstreifen nicht Herr zu werden. Da hilft nur Abschreckung.
Ich wohne nicht mehr in der Schlesischen Straße. Wir sind vor zwei Jahren weggezogen, gerade noch rechtzeitig. Das sagen alle, denen ich erzähle, dass wir da mal gewohnt haben. Seid froh, dass ihr weggezogen seid. Da kann man nicht mehr wohnen. Das ist nur noch eine einzige Partymeile. Sagen alle. Abends einfach nach Hause kommen? Unmöglich. Ständig blockieren Gäste von der Kneipe nebenan den Hauseingang. Dürfen wir mal durch? Unwilliges Pohälftenrücken. Danke. Morgens der Tritt in Scherben – wenn es gut läuft. Läuft es schlecht, liegt noch eine Alkleiche vor der Tür und schläft ihren Rausch aus.
Und jetzt geht das wieder los. Sobald es Frühling ist, stellen sie ihre Tische, Bierbänke und Stühle raus, fahren ihre Markisen aus, grenzen ihr Territorium mit Blumenkübeln ab und blockieren die Transitwege dieser Stadt. Passanten werden zu Hindernisläufern. Es ist eine einzige Fußgängelung.
Leute, versteht mich nicht falsch! Ich sitze auch gerne in der Sonne, esse an lauen Abenden mal eine Pizza draußen und trinke dazu ein Bier, oder zwei. Ich habe nichts gegen Gastwirtschaft. Kneipenbesitzer bezahlen Gebühren für die Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes, davon profitieren wir alle. Aber es muss doch im vernünftigen Maß bleiben. Es heißt schließlich Gehweg und nicht Sitzweg.
Von April bis Oktober ist an vielen Orten dieser Stadt kein Durchkommen mehr. Ob in Prenzlauer Berg, in Friedrichshain, Kreuzberg oder Mitte – in den Zonen des ausufernden Vergnügens fühlt man sich auf Bürgersteigen wie ein Störenfried, der durch fremde Esszimmer marschiert. Es ist mir unangenehm, wenn Gäste mit den Stühlen rücken müssen, ehe ich passieren kann. Und dass ich in jedem Moment darauf gefasst sein muss, dass eine Bedienung mit vollem Tablett zur Tür herausgeschossen kommt und über mich stürzt.
In § 25 der Straßenverkehrsordnung heißt es: „Wer zu Fuß geht, muss die Gehwege benutzen. Auf der Fahrbahn darf nur gegangen werden, wenn die Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen hat.“ Der Gehweg dient dazu, auf zwei Beinen von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Es ist ein transitorischer Ort, eine Passage. Zu Fuß gehen ist ein Menschenrecht. Kann ja wohl nicht sein, dass ich mich aufs Fahrrad oder ins Auto setzen muss, um ungehindert durch die Stadt zu kommen.
Und, Pardon, wenn ich auf Paragrafen herumreite: Nach § 11 des Berliner Straßengesetzes ist jede Benutzung öffentlichen Straßenlandes, „die über den Gemeingebrauch hinausgeht“ eine genehmigungspflichtige „Sondernutzung“. Die Erlaubnis dazu wird erteilt, „wenn überwiegende öffentliche Interessen der Sondernutzung nicht entgegenstehen“. Kurz: Fußgänger haben Vorrang.
Die Wegelagerei nervt. Was soll daran Vergnügen oder Erholung sein, im tosenden Verkehr zu hocken und Passanten den Weg zu versperren? Gegen diese Unart ist der Coffee to go ein kultureller Fortschritt. In Berlin gibt es Platz genug, um sich unter freiem Himmel zu verköstigen – in Biergärten, auf Plätzen, in Strandbars und Hinterhöfen, auf Grillflächen oder beim Picknick im Park. Frische Luft und schöne Aussichten gibt’s gratis dazu. Stattdessen belagern die Massen die Trottoirs bis an den Straßenrand, inhalieren Autoabgase und verbreiten Stress. Anwohner werden um ihre Feierabendruhe gebracht, Kinder finden keinen Schlaf und versagen in der Schule, Polizei rückt an und ab, in den Umweltämtern stapeln sich die Anzeigen wegen Lärmbelästigung.
Jahr für Jahr steigt die Zahl der Sondernutzungen, stehen mehr Bierbänke, Tische und Stühle vor den Lokalen. Dieser Berlinblockade ist selbst mit alliierter Macht aller Kiezstreifen nicht Herr zu werden. Da hilft nur Abschreckung. Ein kräftiger Aufschlag bei den Nutzungsgebühren für Straßenland wäre ein Anfang – dazu am besten eine Selbstverpflichtung der Gastronomie, nach dem Vorbild der fast vergessenen Tradition: Draußen nur Kännchen! Schluss mit dem stundenlangen Genippe am kalten Cappuccino oder pisswarmen 0,3-Pils. Wer auf dem Gehsteig zecht, der blecht – und bekommt pitcher-, maß- oder eimerweise serviert. Draußen nur Kannen! Das erspart dem Personal Laufwege und füllt dem Wirt die Kasse. Und, liebe Leute, rückt zusammen! Macht den Gang frei!
Gegen die Unart
der Wegelagerei
auf den Trottoirs
ist der Coffee to go
ein kultureller
Fortschritt.
Stephan Wiehler
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