Roofing in Berlin: Die Wolkenkratzer
Für eine Großstadt ist Berlin ziemlich flach, findet Marat Dupri. Er muss es wissen. Der junge Russe klettert auf die höchsten Gebäude der Welt – um hinunterzublicken. Auch die Berliner Dächer entdecken Roofer wie er mittlerweile für sich.
Wer hoch hinaus will, muss unten anfangen, heißt es. Dieses Unten könnte überall sein, doch heute liegt es im Keller einer Industrieruine in Niederschöneweide. So wenige Lichtstrahlen dringen bis hierher durch, dass nur das Echo klirrender Schritte die Größe des Raumes verrät.
Marat Dupri bleibt stehen. Kurz ist es still, als habe er die Geräusche der Welt da draußen eingeatmet. „Hier geht’s nicht weiter“, sagt er und aktiviert die Taschenlampe in seinem Smartphone. Er leuchtet nach vorne, dort ist nichts, nur zerschmetterte Backsteine und zerschmissene Flaschen – plötzlich huscht an der Wand etwas vorbei. Eine Tür fällt zu. „Wir müssen woanders lang. Es riecht nach Ärger.“
Marat sucht nach einem Weg in den Kühlturm der früheren Bärenquell-Brauerei, der zwischen Spree und Schnellerstraße unweit des S-Bahnhofs Schöneweide weithin sichtbar in die Höhe ragt. Der normale Zugang würde durch eine schwere Eisentür führen, die ist zugeschweißt, mit dicker Naht. Also läuft Marat von einem lichtlosen Kellerraum in den nächsten, hinauf ins Erdgeschoss, immer weiter hinein in das monumentale ehemalige Bierlager, über dem der Kühlturm aufragt. Er klettert an einem eingestürzten Treppenaufgang vorbei, biegt um die Ecke – und steht plötzlich einem Mann gegenüber.
„Hello, my name is Marat. Where are you from?“
Der Mann fährt sich mit völkisch tätowierten Fingern über den kahl geschorenen Schädel, macht sich breit. „Berlin“, sagt er sehr betont. Aus einem nahen Gang sind Schritte zu hören. Ja, es riecht nach Ärger.
Das Gefährlichste sind andere Menschen
Der Mann und Marat mustern einander. Beide dürften sie überhaupt nicht hier sein. Der eine trägt die Montur autonomer Nationalisten – Kapuzenpullover, Handschuhe, Basecap, alles in Schwarz. Der andere sieht wie ein Backpacker aus, mit Turnschuhen, Jeans und grauem Pulli.
Marat ist gekommen, um den Turm zu besteigen. Denn er ist Roofer, was bedeutet, dass er ungesichert auf Gebäude klettert, auf die legal niemand klettern darf. Dort macht er Fotos oder Videos, die er ins Netz stellt. Im Internet ist der „Skywalker“ Marat Dupri deshalb ein Star, auf seinen Touren aber ist er allein. Was ihn reizt, ist nicht so sehr die Grenzverletzung an sich, trotzdem stößt er immer wieder in Sphären vor, in denen das Gefährlichste andere Menschen sind. Wie der Schwarzgekleidete jetzt vor ihm. Was hat der vor? Und was seine Begleiter, deren Schritte sich nähern?
100 Jahre lang wurde in der Bärenquell-Brauerei Bier hergestellt, seit 1994 nicht mehr. Es ist ein vergessener Ort, der nur von seltsamen Gestalten begangen und selten erwähnt wird. 2012 hat es dort an vier Tagen hintereinander gebrannt, da haben sich Bezirk und Polizei kümmern wollen, wurde damals postuliert. Illegale Partys sollen hier gestiegen sein, vielleicht tun sie es noch. Vielleicht ist der Mann in Schwarz, der Dupri den Weg verstellt, deswegen hier.
Jeder wartet auf die erste Bewegung des anderen – bis Marat einfach zur Seite hechtet und losläuft. Die Treppe ist frei, sie führt hinauf. Der in Schwarz schlägt unten mit seiner Hand gegen eine Backsteinmauer, er rennt nicht hinterher. Kurz darauf ist Marat im Turm angelangt.
Sie hinterlassen keine Spuren
„Mein Gefühl täuscht mich nie“, sagt er ruhig und schaut sich in der gänzlich mit Graffiti bedeckten Turmspitze um. „Das Bedenklichste an jeder Höhe sind Idioten im Erdgeschoss.“ Wie jene zwei betrunkenen Herumtreiber, die ihn verprügeln und seine Spiegelreflexkamera klauen wollten. Zum Glück sei alles glimpflich ausgegangen, auch seine Ausrüstung habe er noch retten können, sagt Marat.
An der Turmspitze wagt er sich auf einen Balkon vor, der quadratisch um den Turm führt und von einem Geländer gesichert wird. Ansatzlos hievt sich Marat mit einem weiten Schwung auf dieses Geländer, macht es sich gemütlich auf dem faustbreiten Handlauf. Er wirft einen Blick hinunter, 30 Meter sind es bis zum Boden, vielleicht 40, das ist die Tücke vertikaler Distanzen. Das Geländer ist stellenweise verrostet, die Jahre haben ihm zugesetzt, wie dem gesamten Areal.
Von hier oben sieht Berlin nicht wie eine Stadt, sondern wie ein Ballungsraum aus. Überall Schornsteine wie Ausrufezeichen. So viel Natur, noch mehr Infrastruktur ist zu sehen, und es bleibt die Frage, wo denn die vielen Menschen sein sollen, die angeblich in dieser Metropolregion wohnen.
Wer hoch hinaus will, stürzt tief, heißt es. Marat wirkt gelassen, obwohl ihn nur eine falsche Bewegung vom Sturz in den Abgrund trennt. Seine Hände liegen locker auf seinen Oberschenkeln. Er blickt nach vorne: Berlin ruht an einem lauen Frühsommertag vor ihm. „Gefährlich? Nein, gefährlich ist Roofing nicht. Ich halte mich doch an Sicherheitsregeln.“
Von Roofing-Toten war noch nie etwas zu hören
In Deutschland ist der Begriff „Roofing“ erst seit wenigen Jahren bekannt. In Fernsehbeiträgen werden die jungen, vorwiegend russischen Szenehelden als Verrückte dargestellt, die auf der Suche nach dem nächsten Adrenalinkick „extrem gefährliche“ Aktionen durchführen. Oder als Draufgänger, die in Moskau oder St. Petersburg „der Perspektivlosigkeit einer orientierungslosen Generation“ („Spiegel-TV“) durch sinnlose Kletteraktionen zu entkommen versuchen. In der Vorstellung der Leute könnten sie ihr Leben ebenso gut beim S-Bahn-Surfen aufs Spiel setzen. Das fordert laufend Tote, erst im März ist ein 19-Jähriger in Berlin vom Dach eines S-Bahn-Zuges gestürzt und ums Leben gekommen. Von Roofing-Toten war dagegen noch nichts zu hören.
Für Roofer ist das, was sie tun, keineswegs ein Risikosport. Sondern eine Leidenschaft mit Tradition, eine Spielart des „Urban Exploring“, abgekürzt „Urbex“. Dies ist der Sammelbegriff für die Erforschung „verlorener Orte“ in den urbanen Zentren: Verlassene U-Bahn-Schächte, verwaiste Militärstützpunkte oder eben Industrieruinen sind das Ziel.
Auch das in den Nullerjahren populär gewordene Parkour gehört dazu. Dabei werden Treppen, Wände und Bänke für einen improvisierten Hindernislauf genutzt und erlangen so eine neue Bedeutung. Parkour-Legende Sebastién Foucan brachte es sogar zu einer Rolle im James-Bond- Film „Casino Royale“. So weit ist Roofing noch nicht.
„Das Ziel ist, eine tiefere Bedeutung von Orten zu finden, an denen wir alle tagtäglich vorbeigehen.“ So beschreibt es Bradley L. Garrett, ein englischer Urbex-Pionier, in „Explore Everything“. Dieses Buch ist das seltene Beispiel einer nach außen gedrungenen Auseinandersetzung der Szene mit sich selbst – einer Szene, die zumeist auf Diskretion bedacht ist. „Indem wir uns an Wachmännern vorbeischleichen und die geheimen Seiten der Stadt fotografieren, nehmen wir uns etwas zurück, von dem wir nicht wussten, dass wir es verloren haben“, schreibt Garrett. Wie bei Computerhackern gehe es auch darum, „Schwachstellen im System“ zu finden, also etwa Lücken in Sicherheitskonzepten von Unternehmen. Die Motive für solche Taten seien sehr verschieden, viele machten es jedoch „schlichtweg aus Spaß“.
Lange hielten sich die meisten Roofer an die von Bradley L. Garrett formulierte Regel: „Leave no trace“. Dieser aus dem ökologischen Tourismus entlehnte Leitsatz bedeutet auf das Roofing angewandt: Hinterlasse einen Ort so, dass niemand merkt, dass du überhaupt da warst, lass Türen intakt, lass die Anwohner in Ruhe, lass keinen Müll zurück, lass dich nicht erwischen. Und eben auch: Behandle deine Bilder und Videos diskret - um dich selbst, aber auch von dir entdeckte Orte zu schützen.
Der Potsdamer Platz von ganz oben
Urbane Alpinisten aus Russland haben das inzwischen geändert – und Roofing in Europa bekannt gemacht. Zwei russische Kletterer, die zu den größten Helden der Szene gehören, haben in diesem Jahr die Hochbauten um den Potsdamer Platz erklommen. Gesponsert von einer Schuhfirma haben Vadim Mahorov und Vitaly Jakhnenko, zwei schmächtige junge Männer, wie fast alle Roofer schmächtige junge Männer sind, an einem sehr windigen Tag über Berlin philosophiert. Zu sehen ist all das natürlich auf Youtube, dem Szenemedium der Wahl.
„Wie ist Berlin so?“
„Die Stadt ist grau, sehr urban, ist krass.“
„Urban? Du meinst hoch?“
„Nee, nicht hoch.“
„Ist sie gotisch?“
„Nein, das auch nicht.“
„Hm.“
„Einfach urban, aber nicht sehr hoch. Hat dennoch viele moderne Gebäude.“
So reden sie und steigen dann auf den Kollhoff-Tower, um sich auf nassen Eisenträgern ins Nichts zu lehnen.
„Ziemlich glatt“, sagen sie.
Wie diese beiden haben in den vergangenen zwei Jahren etliche russische Roofer den lautlosen Pfad verlassen, haben spektakuläre Fotos gepostet, Stalin-Bauten in Moskau bezwungen und die über 300 Meter hohen Pylonen der kürzlich eröffneten Schrägseilbrücke „Russki“ im fernen Wladiwostok. Auch der Kölner Dom hat seine Besteigung hinter sich und seit Kurzem der Shanghai Tower, ein 632 Meter hoher Wolkenkratzer, das zweithöchste Gebäude der Welt. Marat selbst hat mit Weitwinkel-Aufnahmen in Russland bereits Preise gewonnen. Einige russische Roofer schrecken nicht davor zurück, Türen aufzubiegen oder Schlösser zu knacken. Marat aber sagt: „Wir halten uns an Regeln, wir klauen nichts und bemalen nichts.“ Unterschiede zwischen russischen und deutschen Roofern hätte er aber schon ausgemacht, bei seinen Kletteraktionen in Berlin und München. In Europa würde die Stadtbesteiger trickreicher vorgehen und sich meistens bedeckt halten, allein schon wegen der drohenden deftigen Strafen. „In Deutschland hat Roofing viele Parkour-Elemente. Hier halten sich alle mehr an Regeln.“
"Jede Minute kommt einem kostbar vor"
Es ist auffällig, wie häufig Marat Dupri das Wort Regeln benutzt, als jemand, der um die Welt fliegt, um unerlaubt illegal auf Hochbauten zu steigen. Nüchtern klettern, nur mit Menschen, denen man wirklich vertraut, und keine unnötigen Risiken eingehen, so beschreibt er die Sicherheitsregeln, die ihm eben auch erlauben, auf dem rostigen Geländer des Kühlturms der Bärenquell-Brauerei zu sitzen und die Sonne über Berlin hinterm Horizont verschwinden zu sehen. Dass seine Handlungen illegal sind, ist ihm klar. „Jede Minute kommt einem kostbar vor – weil man ja eigentlich nicht sein darf, wo man ist.“ Es handelt sich schließlich mindestens um Hausfriedensbruch.
Was legal ist und was nicht, wie Recht auszulegen ist, damit hat Marat auch in seinem normalen Leben zu tun. Er ist Anwalt, spezialisiert auf Vertragsrecht und Internationales Recht. „In meiner Kanzlei in Moskau wissen viele, was ich tue. Einigen gefällt das nicht, aber den meisten ist es egal.“ Ob er es seltsam findet, als studierter 22-Jähriger rostige Bauruinen zu besteigen? „Als Jugendlicher habe ich Computerspiele gespielt und meine Zeit verplempert. Aber ich wollte etwas Intensives erleben und einen neuen Blick auf das Leben gewinnen.“ Rechtliche Konsequenzen hatte das Roofing für ihn bislang nicht, weil die meisten Hausbesitzer auch bei im Nachhinein veröffentlichten Fotobeweisen keine Schritte einleiten. Der Probst des Kölner Doms hat einmal die Polizei eingeschaltet, nachdem entsprechende Fotos im Netz auftauchten. Da waren die Urheber längst wieder unterwegs.
Von oben sieht Berlin ruhig und gemütlich aus
Dieser andere Blick, den die Vogelperspektive bietet, ist der Lohn des Roofers, das in solchen Höhen mild klingende Dröhnen der Großstadt ist sein stiller Applaus. „Berlin sieht im Vergleich zu anderen Metropolen gar nicht wie eine Metropole aus“, sagt Marat. Die Stadt empfindet er als „sehr rational, geradlinig, klar“, gerade im Vergleich zu erratisch blinkenden asiatischen Mega-Citys. „Es ist von oben sichtbar, wie gemütlich und ruhig es unten ist.“
So der spezielle Blick eines jungen Russen, der sich von dem Bild unterscheidet, das viele Berliner von ihrer Stadt haben, die sie als hektisch, laut und vollgestopft empfinden. Dieser spezielle Blick braucht nicht zwangsläufig Höhe. Marat sagt: „In Berlin wird alles viel strenger sanktioniert als bei uns in Moskau.“ Am meisten erinnert ihn die deutsche Hauptstadt an St. Petersburg. Wie dort könne man auch in Berlin über lange Dachreihen Spaziergänge unternehmen, ohne die Straße zu betreten, ohne die begehrte Vogelperspektive aufzugeben.
Den Fernsehturm lässt er sich nicht entgehen
Ilse Helbrecht lehrt an der Humboldt-Universität Kultur- und Sozialgeografie, eine Disziplin, die sich mit der Auswirkung räumlicher Strukturen auf das soziale Miteinander beschäftigt. Die Vogelperspektive hat aus ihrer Sicht zwar eine „ganz eigene Ästhetik und natürlich eine lange Tradition“, habe sich jedoch als Teil der sprichwörtlichen Stadtplanung von oben vielfach überholt. „Die Alltagserfahrung der meisten Menschen entspricht nun einmal mehr der Perspektive des Froschs als der des Vogels.“
Aus großer Höhe gedachtes und geplantes Zusammenleben könne deshalb nicht so gut funktionieren wie „von unten“ gewonnene Einsichten. Als Beispiel führt Helbrecht den am Reißbrett geplanten Alexanderplatz an, der trotz seiner historischen Bedeutung und der immensen Investitionen seit der Wiedervereinigung eine städtebauliche Einöde geblieben ist, eine auf Konsum ausgerichtete, von jeglichem Charme bereinigte Einkaufswüste.
Dabei verrät der Blick von oben, wie prägend die Vogelperspektive für die gesamte Entwicklung der Stadt war, gerade weil Berlin als im Vergleich mit London oder Paris spät berufene Metropole über genug Platz verfügte, über Gestaltungsräume für Generalplaner. Vor gut 150 Jahren verordnete der Hobrecht-Plan Berlin breite Ausfallstraßen und innerstädtische Generalzüge, Immobilienspekulationen führten zu verdichteten Lebensverhältnissen, in den damaligen Zeiten oftmals ein Synonym für Elend. Es folgten größenwahnsinnige Germania-Planungen der Nationalsozialisten, die in „Achsen“ dachten, welche sich von West nach Ost und vom Süden nach Norden durch die Stadt walzen sollten. Germania wurde von der Geschichte begraben, bevor die Pläne realisiert wurden. Aber die großen Achsen waren nicht nur bei den Nazis beliebt.
Aus der Höhe zeigt sich die Struktur der Stadt
Auch im ehemaligen Ost-Berlin mit seinen Arbeiterpalästen und der mehr für Paraden denn für Menschen angelegten heutigen Karl-Marx-Allee wurde der Stadt nach ideologischen und ästhetischen Gesichtspunkten eine Struktur aufgedrückt, die sie bis heute prägt. Die Ladenzeilen im Erdgeschoss wandeln sich, aber die von Kaisern, Diktatoren und Parteieiferern erdachte Struktur bleibt von oben sichtbar. Insofern blickt , wer aus der Höhe auf die Stadt schaut, auch zurück.
Gerade die Generalpläne des letzten Jahrhunderts haben oft ambivalente Auswirkungen auf die Stadt gehabt. So würde Berlin heute ohne die breiten Ausfallstraßen im Verkehr ersticken – andererseits „zerschneiden sie städtische Quartiere“, sagt Kulturgeografin Helbrecht. Der sozialistische Wohnungsbau der DDR mit den von oben wie zu einer geheimen Inschrift angeordnet wirkenden Plattenbauten habe immerhin den Vorteil, dass Berlin heute über viel günstigen innerstädtischen Wohnraum verfügt. All dies ist aus der Vogelperspektive sichtbar, die für Helbrecht zwar nicht den alleinigen Blickwinkel für eine gute Stadtübersicht bilden sollte, aber ihre Berechtigung hat. „Der Trick an Perspektiven ist es, mehrere zu haben.“
Muss man nun aber lebensgefährlich herumklettern, um den Quellcode der Stadt zu analysieren?
Immerhin gibt es ihn, den einen Ort in Berlin, der eine unvergleichliche Perspektive ermöglicht. Auch vom Kühlturm der Bärenquell-Brauerei ist er zu sehen: der Fernsehturm. Marat visiert ihn lange an, als wolle er ihn sich zurechtlegen. Natürlich weiß er, dass ein steter Touristenstrom die Aussichtsplattform in gut 200 Metern Höhe durchfließt, und natürlich weiß er, dass der Turm wesentlich höher ist: 368 Meter. Er wird zum Alexanderplatz gehen, das kann er sich nicht entgehen lassen. Doch jetzt noch nicht, sein Tag war lang. Müde klettern wäre, klar, gegen die Sicherheitsregeln. Wer hoch hinaus will, tut gut daran, ein stabiles Fundament zu bauen, heißt es.
"Schau mal aufs Dach gegenüber"
Das Fundament der Roofer-Szene heute sind all jene, die, ohne Fotobeweise zu liefern, auf Dächer und Kräne steigen. Wie viele es sind, weltweit und in Berlin, ist kaum festzustellen. Auf der Suche nach wenigstens einem bleiben viele Anrufe und Nachrichten unbeantwortet, ein Roofer erklärt sich schließlich zu einem Treffen bereit, jedoch nur, wenn ausschließlich er und seine Freunde in der Reportage vorkommen. Mit russischen Kletterern will er schon gar nicht in einem Text erscheinen, erklärt er sehr überzeugt, die seien doch alle Angeber. Ja? Wirklich? Der Anrufer redet laut und bestimmt. Und er erklärt, dass für 1500 Euro Honorar jedes Dach und sowieso alles drin sei. – Dann wohl doch eher nicht.
Einige Tage darauf, es ist schon spät am Abend, eine Kurznachricht von einer unbekannten Nummer.
„Sind Sie im Büro?“
„Wer ist denn da?“
„Wenn du in der Redaktion bist, schau rüber aufs große graue Haus, da ist jemand auf dem Dach.“
„Bin ich nicht. Wer ist denn da?“
„Du wolltest einen Artikel über Leute machen, die auf Dächer gehen.“
„Ja. Mache ich auch. Hatten wir gesprochen und du wolltest nicht mit russischen Roofern in eine Story?“
„Nee, ich bin jemand ganz anderes. Meine Nummer hast du nun. Bei Interesse einfach melden.“
„Okay. Überlege es mir.“
„Kein Ding, einen besseren als mich wirst du nicht finden, habe mittlerweile 34.321 Häuser in ganz Berlin im Angebot.“
"Ich will damit nicht berühmt werden"
Klingt das verlockend? Tatsächlich lassen sich am nächsten Tag Aufnahmen im Netz finden, die von einem Hochhaus gegenüber des am Askanischen Platz gelegenen Redaktionsgebäudes aufgenommen worden sein müssen. Das Datum stimmt, die Perspektive auch, zu sehen ist die Ruine des Bahnhofsportikus, durch den früher der Anhalter Bahnhof betreten wurde. Beeindruckend, oder?
Allerdings irritiert die Eigeninitiative, zu seltsam ist die Kontaktaufnahme, und dann hat der Unbekannte schlichtweg viel zu viele Häuser im Angebot.
Dagegen Jasper, ein ruhiger Typ aus Niedersachsen, Ende zwanzig. blauer Pulli, unauffällige Jeans, zur Seite fallendes Haar: Wie ein Adrenalinjunkie sieht auch er nicht aus bei dem Treffen im Klunkerkranich. Der „Kulturgarten“ am Rathaus Neukölln ist eine um Blumenbeete ergänzte Bar, wo Besucher aus schierer Freude am Grünwuchs mitgärtnern können. Sie befindet sich auf dem obersten Stockwerk eines Parkhauses.
Den großen Auftritt will Jasper nicht, und er heißt mit richtigem Namen auch nicht Jasper. „Ich will damit nicht berühmt werden“, sagt er und meint seine Kletteraktionen, die er seit etwa zwei Jahren regelmäßig unternimmt. Seine Kamera hat er dennoch immer dabei. Die Fotos, die er von den Dächern Berlins aus aufnimmt, sind so spektakulär wie jene der Promi-Roofer – auch wenn die Dächer Berlins nicht besonders hoch sind. Derzeit absolviert Jasper eine Ausbildung zum Fotografen. Um die Privatschule zu finanzieren, arbeitet er zusätzlich als Sanitäter. Das ist auch einer der Gründe, warum er seine Fotos im Internet veröffentlicht, seine Identität aber geheim hält. „Russische Roofer zahlen Geldstrafen, wenn sie auf Dächern erwischt werden. Bei uns gibt es eine Anzeige.“
Jasper lässt den Blick schweifen, gönnt sich ein Bier. Schön hier oben, in dieser aus dem Wunsch der Menschen nach dem entspannten Panoramablick entstandene Oase, etwas Grün, gepflanzt auf viel Beton. Wenn es solche Orte gibt, warum braucht er dann eigentlich noch die nächtlichen Klettertouren?
Jasper überlegt und sagt dann sehr bestimmt: „Mir reichen die vorgefertigten Sachen nicht.“
"Angst ist eine Entscheidungsfrage"
Vom Parkhausdach aus sieht Berlin beengt aus, die Häuser wirken wie eine Familie, die sich auf einem Sofa ineinander verschachtelt hat und nicht mehr aufstehen kann. Blanke Brandmauern stellen sich dem Blicklauf entgegen, Verkehr verfestigt sich in schmalen Straßen, nichts fließt. „Ja, Berlin ist niedrig und die Wege sind weit“, sagt Jasper, und es ist doch zu spüren, dass er die Stadt mit der bewussten Zuneigung eines Zugezogenen betrachtet.
Ob er nicht manchmal Angst habe vor der Höhe?
„Angst ist eine Entscheidungsfrage“, sagt er. „Es geht darum, sich nicht nur bedienen zu lassen, sondern das Programm selbst zu gestalten.“
Angefangen hat Jasper 2012 in Leipzig, danach ist er auf Baukräne in Berlin geklettert, hat das Bettenhaus der Charité erklommen und das Philips-Hochhaus in Schöneberg. „Als ich kurz darauf die Bilder von Marat Dupri und anderen gesehen habe, war das sehr inspirierend.“ Die Szene mag wenig vernetzt sein, aber die Taten des einen sind den anderen Ansporn. „Ich kann verstehen, dass Hausbesitzer Anzeige erstatten. Sonst würde er zu viele Nachahmer geben“, sagt er, der dennoch findet: „Es gibt schon diese deutsche Schloss- und Schließmentalität.“ Einmal habe er im 17. Stockwerk eines Hochhauses festgesessen, weil ihm Sicherheitsleute seinen Rückweg verriegelt hatten.
Es geht auch um das "Recht auf Stadt"
Was es in der Roofer-Szene alles gibt, findet auch Jasper manchmal zu viel. Kletterer sollen in einem Vattenfall-Kraftwerk in Berlin auf einem Schornstein gewesen sein, bei laufendem Betrieb. Im Netz kursieren auch Videos von jungen Männern, die sich von Baukränen mit einer Hand fallen lassen, um erst in letzter Sekunde mit der anderen nach dem Leben zu greifen. Schockmomente, die manchmal von Hunderttausenden im Netz abgerufen werden. Jasper sagt: „Menschen lieben den Leichtsinn, wenn andere ihn leben.“
Geht es also am Ende um die Überwindung eigener Apathien, um das kurzfristige Machtgefühl desjenigen, der sich selbst überwunden hat?
Für Benno Werlen von der Universität Jena ist Roofing eine Form der „körperlichen Aneignung“ von städtischen Orten, wenn nicht sogar eine „symbolische Besitzergreifung“, wie sie auch der bürgerliche Typus des Flaneurs Ende des 19. Jahrhunderts praktiziert hat, als er sich die Stadt als geistiges Abenteuer und Erfahrungsraum erschloss. Der Sozialgeograf Werlen sieht eine grundsätzliche Veränderung der Wahrnehmung urbanen Raums: „Die Stadt wurde lange als etwas Feindliches wahrgenommen. Dies hat sich über die Jahre geändert.“ Das Roofing könne daher ein „Ausdruck positiv gemeinter Urbanität“ sein, auch wenn der egoistische Kern nicht zu leugnen ist. „Es handelt sich um die kurzfristige individuelle Aneignung kollektiver Güter.“ Der große Unterschied zu Bergsteigern liege natürlich darin, dass Berge für alle begehbar sind, während in der Stadt fast jeder Zentimeter verteilt ist, irgendjemandem gehört und auf vielfältige Art und Weise verteidigt wird.
Er testet, ob die Tür sich öffnen lässt
So steht Roofing gleichzeitig in Widerspruch und in einer Reihe mit dem gewachsenen Bewusstsein des „Rechts auf Stadt“, das als kollektives Anrecht ganzer Bevölkerungsschichten gegen Partikularinteressen seit einigen Jahren vor allem in europäischen Großstädten vehement eingefordert wird. Die Besteigung von Hochbauten als persönlicher Zugriff, als kurzfristige Nutzung des Eigentums anderer erweitert – in einem symbolischen Akt – die urbane Kampfzone.
Marat Dupri kommt an einem wolkenlosen Nachmittag am Alexanderplatz an, er schaut sich um und läuft auf den Eingang des Fernsehturms zu. Füllige Nordeuropäer drängeln sich neben ihn in den Aufzug, er laviert zwischen ihnen, vermeidet zu viel Körperkontakt. „Die Fernsicht beträgt 40 Kilometer“, sagt die Frau, die den Aufzug bedient. Als der Aufzug oben ankommt, schlängelt sich Marat durch die Menge, blickt sich um. Brandenburg wirkt von hier wie ein einziger Wald, der Berlin umzingelt hat. Die skandinavischen Touristen staunen.
Marat umrundet die Panorama-Plattform, es könnte sein, dass er gerade an die Spitze denkt, 368 Meter, wenn er es dorthin schafft, geht das Foto um die Welt. Er testet, ob die ins Turminnere führenden Türen sich öffnen lassen. Sie sehen schwer und verschlossen aus, wie Türen, die aus Prinzip verschlossen sind.
Eine geht auf.
Marat ist in der verbotenen Zone. Er hastet die Stufen hinauf. Das ist der Zufall, auf den er gehofft hatte. Nichts zerstören, nichts aufbrechen. Die Regeln des Roofing vertrauen auf die kleinen menschlichen Schwächen.
„Bleiben Sie stehen!“, hallt es plötzlich hinter ihm durch den Gang. Diesmal sind die Wachleute schneller. Diesmal.
Dieser Text ist in der Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.