Berlin: Die vermissten Kinder in den Straßen von Berlin
Die meisten Jugendlichen tauchen nach einigen Tagen wieder auf Andere bleiben verschwunden. Wie die 14-jährige Georgine aus Moabit
Seit fast fünf Wochen wird die 14-jährige Georgine Krüger aus Moabit vermisst. Trotz der mittlerweile 119 eingegangenen Hinweise haben die Ermittler der Mordkommission bisher noch keine ergiebige Spur. Der Fall „Georgine“ ist ein besonderer: Die Jugendliche ist in diesem Jahr bislang die einzige, die als vermisst gemeldet wurde und vorerst verschwunden blieb.
„In 99 Prozent der Fälle hauen Kinder oder Jugendliche freiwillig ab und tauchen nach kurzer Zeit wieder auf“, erklärt Michael Havemann, Chef der Vermisstenstelle beim Landeskriminalamt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Liebeskummer, Stress mit den Eltern oder Lehrern, „teilweise auch einfach nur pure Abenteuerlust“, schildert Havemann. Täglich landen zwischen drei und sieben Fälle von vermissten Kindern und Jugendlichen bei den Ermittlern auf dem Schreibtisch. Besonders zur Loveparade im Sommer steige die Zahl der Vermissten regelmäßig an, sagt Havemann: „Da hauen viele Jugendliche mal für ein paar Tage ab und feiern durch, bevor sie sich dann wieder daheim melden.“ Im Jahr 2005 wurden 1054 Kinder und 2422 Jugendliche als vermisst gemeldet. „Keiner der Fälle blieb ungeklärt“, sagt Havemann.
Auch im Umfeld von Georgine war man zunächst davon ausgegangen, dass sie ausgerissen sei. Von jungen Männern war die Rede, die sie per Internet kennengelernt habe. „Vielleicht ist sie mit einem durchgebrannt“, mutmaßten Nachbarn. Anders die Polizei: Es habe kein Motiv für ihr Verschwinden gegeben, sagt Havemann. Eher im Gegenteil. Sie hatte sogar Gründe, nach Hause zu kommen. Ihre Mutter berichtete auch dem Tagesspiegel, dass Georgine eine Zusage für eine Statistenrolle in der ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“ erhalten hatte und sie an jenem Montag die Casting-Agentur „unbedingt zurückrufen wollte“. So bleibt ihr Fall rätselhaft.
Was man weiß, ist, dass sie am 25. September mit dem Bus der Linie M27 von der Schule nach Hause fuhr. Zeugen wollen gesehen haben, wie sie an der Haltestelle Perleberger Straße ausstieg. 200 Meter sind es bis zu ihrer Wohnungstür in der Stendaler Straße. Auf dem Weg dorthin verliert sich ihre Spur. Die Polizisten hielten ein Verbrechen nicht für ausgeschlossen, der Fall ging an die Mordkommission. Eine groß angelegte Suchaktion über mehrere Tage wurde gestartet – bislang ergebnislos.
Der Fall weist in gewisser Weise Parallelen zum Verschwinden von Sandra Wißmann aus Kreuzberg auf. Die damals Zwölfjährige wird seit dem 28. November 2000 vermisst. An jenem Wintertag hatte sie sich vorher noch von ihrer Mutter verabschiedet, weil sie alleine ein Geburtstagsgeschenk für sie kaufen wollte. Das war das letzte Mal, dass Sandras Mutter ihre Tochter gesehen hat.Die Mordkommission geht von einem Kapitalverbrechen aus. Zeugen sollen beobachtet haben, wie das Mädchen von einem Mann in Handwerkerkleidung angesprochen worden ist.
In Hamburg versucht die „Elterninitiative Vermisste Kinder“ bundesweit Angehörigen zu helfen. Die Berater sprechen mit betroffenen Eltern oder Verwandten, verteilen Broschüren zu dem Thema und stellen je nach Wunsch auch Kontakte zu anderen betroffenen Eltern her. Auf einer Internet-Seite können Fotos der vermissten Kinder und Jugendlichen veröffentlicht werden. Auch um Fälle, in denen es um „Kindesentzug“ – meist ist daran ein Elternteil beteiligt – geht, kümmert sich der Verein. „Wir vermitteln Ansprechpartner in Ämtern und Behörden in Sachen Kindesentzug“, sagt eine Sprecherin. Nach eigenen Angaben sind in den vergangenen neun Jahren, seit es die Initiative gibt, 42 Kinder wieder zu ihren Familien „zurückgeführt worden“.
Die Berliner Polizei veröffentlicht unter ihrer Internet-Adresse (www.polizei.berlin.de) eine eigene Liste von vermissten Personen. Eine Kooperation mit Vermissten-Initiativen gebe es nicht, sagt Kriminaloberrat Havemann. „Wir kümmern uns ausschließlich um vermisste Kinder und Jugendliche, nicht um Fälle von Kindesentzug“, sagt er. Doch Hilfe bietet die Kripo betroffenen Eltern ebenfalls. Das Schlimmste für die Betroffenen sei die Ungewissheit, was mit ihrem Kind passiert ist. Eine geschulte Psychologin steht in solchen Fällen bereit und vermittelt bei Bedarf weitere Hilfsangebote für Eltern.
Auch wenn die Akten der Vermissten 30 Jahre lang beim LKA geführt werden, ist die Hoffnung für Angehörige äußerst gering, dass ein über lange Zeit vermisstes Kind noch gefunden wird. Fälle, wie der des Entführungsopfers Natascha Kampusch seien eine absolute Ausnahme, weiß die Polizei: Die heute 18-jährige Österreicherin war acht Jahre lang verschwunden und war in dieser Zeit in der Gewalt ihres Entführers, bevor sie sich im August dieses Jahres befreien konnte. Für viele Angehörige von vermissten Kindern war das sicher wieder ein Grund zur Hoffnung.
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