Staatsbibliothek Berlin: Die Vermessung der Welt und des Schäferbergs
Wolfgang Crom ist Herr der Landkarten in der Staatsbibliothek. Ein Besuch zwischen riesigen Globen, unbezahlbaren Atlanten und alten Zeichnungen.
Erst gehen wir durch verschlungene Wege, die vom Baustaub kalkweiß geworden sind. Dann öffnet sich eine Stahltür wie zu einem Tresor. Eintritt ins Wunderland. Es ist kühl und hell in den hohen Räumen mit ihren geheimnisvollen Schränken, die nichts Geringeres in sich bergen als die Welt. Hier, im renovierten Teil der Dauerbaustelle Staatsbibliothek Unter den Linden, lagern 500.000 Landkarten – „das sind maßstäbig verkleinerte, verebnete und generalisierte Grundrissdarstellungen eines Teils oder der gesamten Erde, anderer Weltkörper und des Weltraumes“, sagt der Fachmann.
Er heißt Wolfgang Crom, ist 58 Jahre alt und stützt die Hand, wenn er spricht, auf seinen Dreitagebart. Crom redet mit Begeisterung, wenn er von seinen Schätzen erzählt, vor allem aber von den Geschichten, die sich hinter den bunten Darstellungen von Orten, Landschaften, Ländern und Kontinenten verbergen.
Der Leiter der Kartenabteilung der Staatsbibliothek ist ein wandelndes Lexikon seiner weltumspannenden Passion, in der er sich derzeit freilich auch als Regisseur, einer von vielen, für einen kompletten Umzug bewähren muss.
Die Kartenabteilungen der früheren Staatsbibliotheken West und Ost werden zusammengeführt, was bedeutet, dass etwa 700.000 Objekte aus der Potsdamer Straße zu ihren 500.000 Brüdern und Schwestern in den Osten umziehen – ab kommenden Sommer soll alles in den neuen Schränken Unter den Linden verstaut werden und die Kartenabteilung im Winter 2019 vollständig wiedervereint sein. Mit 1,2 Millionen Karten und Handzeichnungen, 35.500 Atlanten, 154.000 Ansichten und 800 Globen.
„Der kleinste ist so groß wie diese Kuppe“ sagt Wolfgang Crom und hält den kleinen Finger hoch, „der größte Globus hat einen Umfang von mehr als drei Metern“. Den „Sanuto-Globus“ von 1599 gibt es nur noch in zwei Exemplaren auf der Welt, in Venedig und Berlin. Der Wert? Liegt zwischen fünf und zehn Millionen Euro.
Unschätzbar ist der Atlas des Großen Kurfürsten, ein Geschenk des Fürsten Johann Moritz von Nassau-Siegen an seinen Freund Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Das seltene Stück wiegt 125 Kilogramm, ist 1,7 Meter hoch und misst aufgeschlagen in der Breite 2,2 Meter. Die Rarität geht bald in einer klimatisierten Kiste auf die Reise zu einer Ausstellung in Amsterdam, die vom König der Niederlande eröffnet wird. Wolfgang Crom ist darauf ganz besonders stolz – solche Leihgaben sind mit keinerlei materiellem Gewinn verknüpft, sondern Zeichen der Verbundenheit mit Museen und Kartografen anderer Länder in einem friedliebenden, gemeinsamen Europa.
"Karten sind Wissensspeicher ihrer Zeit"
Aber man muss sich beim „Lesen“ der Darstellungen auf Landkarten gar nicht auf ferne Lande konzentrieren – lokale Begebenheiten, vor der Haustür quasi, sind spannend genug. „Denn Karten sind Wissensspeicher ihrer Zeit und regen die Fantasie an“, sagt Wolfgang Crom. „Wie haben sich Landschaften entwickelt? Wie ist der kanalisierte Bachlauf zu renaturieren? Alte Karten geben Auskunft“.
Zwischen Berlin und Potsdam wächst heute ein Wald. Frühere Karten indes zeigen eine ausgedehnte Heidelandschaft, in der Schafe grasten. Daher der Name Schäferberg. Noch ein Beispiel: Der Atlas des Stifts Neuzelle enthält detaillierte Flurkarten, die der Sicherung der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse dienten.
„Kenntnisse über die Topografie des Geländes, über Bewuchs, aber auch Infrastruktur wie Nutzvieh oder Zugtiere können den entscheidenden Vorteil bei Logistik und Schlachtordnung liefern“, erklärt Wolfgang Crom – deshalb habe Friedrich der Große nach der Besetzung Schlesiens eine großmaßstäbige Kartierung dieses Gebiets in Auftrag gegeben. Ergebnis: 195 handgezeichnete Kartenblätter, in fünf Bände eingebunden. Sie liefern für die Forstwissenschaft oder Bodenpflege noch heute wertvolle Details.
Ein anderes Beispiel wertvoller Karten hat mit dem Begrüßungsgeld zu tun. Kurz nach dem Mauerfall reagierte die Dresdner Bank prompt, als sie einen Stadtplan ihrer Zweigstellen herausgab, damit die Leute wussten, wo sie diese Prämie abholen konnten. „Der auf billigem Papier gedruckte Gebrauchsgegenstand ist mittlerweile zu einem Zeitdokument geworden“, erklärt Crom. Alte Dokumente, zum Beispiel preußische „Urmesstischblätter“ – handgezeichnete Pläne für das gesamte Staatsgebiet Preußens im Maßstab 1:25.000 – sind gefragt, wenn Wissenschaftler oder Studenten, Städtebauer, Geo- oder Biowissenschaftler als Benutzer in den Kartenraum kommen.
Digitalisiert wurden vom Gesamtbestand inzwischen 40.000 Karten – ein Schatz für jedermann. Bei allen Aktivitäten wird die Kartenabteilung vom „Freundeskreis für Cartographica“ unterstützt. Besonders hervorzuheben ist dabei das Angebot für junge Wissenschaftler, die bei ihren Studien im Kartenlesesaal mit einem Stipendium ausgestattet werden.
Das zweitälteste Unternehmen Berlins ist eine Landkartenhandlung
Ein Produzent und Lieferant von Karten und Globen sitzt übrigens in Berlin, in der Hardenbergstraße in Charlottenburg, und feiert dieses Jahr als zweitältestes Unternehmen der Stadt sein 277-jähriges Bestehen: 1742 gründete Simon Schropp seine Landkartenhandlung. Die Kartenabteilung der Staatsbibliothek besitzt die älteste bei Schropp verlegte Karte von 1770. Was schenkt man einer im Geiste verwandten Firma zu so einem Geburtstag? Karten? Globen? „Nein, das wäre kaum originell“, sagt Wolfgang Crom. Man entschied sich für fünf Flaschen Wein aus fünf Kontinenten: China, Südafrika, Frankreich, Chile und Australien.
Den nächsten Grund zum festlichen Prosit gibt es dann zur Schlüsselübergabe für die fertigen neuen Räume: Im Jubiläumsjahr des Mauerfalls sind dann auch die Landkarten in ihren Schränken wieder beisammen. Die Vermessung der Welt ist dann friedlich vereint, wenigstens Unter den Linden in Berlin.
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