Berlin: „Die Tiere feiern den Vollmond“
Alexander von Humboldt erkundete mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland Südamerika. Ein Ausschnitt aus seinem Reisetagebuch
Am 1. April 1800.
Wir übernachteten auf einem dürren, sehr breiten Gestade. In den dichten Wald war nicht zu kommen, und so brachten wir nur mit Not trockenes Holz zusammen, um Feuer anmachen zu können, wobei man, wie die Indianer glauben, vor dem nächtlichen Angriff des Tigers sicher ist. Unsere eigene Erfahrung scheint diesen Glauben zu bestätigen.
Die Nacht war still und heiter, und der Mond schien herrlich. Die Krokodile lagen am Ufer; sie hatten sich so gelegt, dass sie das Feuer sehen konnten. Wir glauben, bemerkt zu haben, dass der Glanz desselben sie herlockt wie die Fische, die Krebse und andere Wassertiere. Die Indianer zeigten uns im Sand die Fährten dreier Tiger, darunter zweier ganz junger. Ohne Zweifel hatte hier ein Weibchen seine Jungen zum Trinken an den Fluss geführt. Da wir am Ufer keinen Baum fanden, steckten wir die Ruder in den Boden und befestigten unsere Hängematten daran. Alles blieb ziemlich ruhig bis um elf Uhr nachts; da erhob sich im benachbarten Wald ein so furchtbarer Lärm, dass man beinahe kein Auge schließen konnte. Unter den vielen Stimmen wilder Tiere, die zusammen schrien, erkannten unsere Indianer nur diejenigen, die sich auch einzeln hören ließen, namentlich die leisen Flötentöne der Sapaju, die Seufzer der Aluaten, das Brüllen des Tigers und des Kuguars oder amerikanischen Löwen ohne Mähne, das Geschrei des Bisamschweins, des Faultiers, des Hocco, des Parraqua und einiger anderer hühnerartiger Vögel.
Wenn die Jaguare dem Waldrande sich näherten, so fing unser Hund, der bis dahin fortwährend gebellt hatte, an zu heulen und suchte Schutz unter den Hängematten. Zuweilen, nachdem es lange geschwiegen, erscholl das Brüllen der Tiger von den Bäumen herunter, und dann folgte darauf das anhaltende schrille Pfeifen der Affen, die sich wohl bei der drohenden Gefahr auf und davon machten.
Die Sorglosigkeit der Indianer macht dabei auch dem Reisenden Mut. Man redet sich mit ihnen ein, die Tiger fürchten alle das Feuer und greifen niemals einen Menschen in seiner Hängematte an.
Befragt man die Indianer, warum die Tiere des Waldes zu gewissen Stunden einen so furchtbaren Lärm erheben, so geben sie die lustige Antwort: „Sie feiern den Vollmond.“ Ich glaube, die Unruhe rührt meist daher, dass im inneren Walde sich irgendwo ein Kampf entsponnen hat. Die Jaguare zum Beispiel machen Jagd auf die Bisamschweine und Tapire, die nur Schutz finden, wenn sie beisammenbleiben und in gedrängten Rudeln fliehend das Gebüsch, das ihnen in den Weg kommt, niederreißen. Die Affen, scheu und furchtsam, erschrecken ob dieser Jagd und beantworten von den Bäumen herab das Geschrei der großen Tiere. Sie wecken die gesellig lebenden Vögel auf, und nicht lange, so ist die ganze Menagerie in Aufruhr. (...)
Am 6. April 1800.
Mit Einbruch der Nacht schlugen wir unser Nachtlager auf einer kahlen Insel mitten im Strome in der Nähe der Mission Uruana auf. Bei herrlichem Mondschein, auf großen Schildkrötenpanzern sitzend, die am Ufer lagen, nahmen wir unser Abendessen ein. Wie herrlich freuten wir uns, dass wir beisammen waren! (...)
Am 10. April 1800.
Wir konnten erst um zehn Uhr morgens unter Segel gehen. Nur schwer gewöhnten wir uns an die neue Piroge, einen Einbaum, der uns eben ein neues Gefängnis war. Um an Breite zu gewinnen, hatte man auf dem hinteren Teile des Fahrzeugs aus Baumzweigen eine Art Gitter angebracht, das auf beiden Seiten über den Bord hinausreichte. Leider war das Blätterdach darüber so niedrig, dass man gebückt sitzen oder ausgestreckt liegen musste, wobei man dann nichts sah. Das Dach war für vier Personen bestimmt, die auf dem Verdeck oder dem Gitter aus Baumzweigen lagen; aber die Beine reichen weit über das Gitter hinaus, und wenn es regnet, wird man bis zum halben Leibe durchnässt. Dabei liegt man auf Ochsenhäuten oder Tigerfellen und die Baumzweige darunter drücken einen durch die dünne Decke gewaltig.
Das Vorderteil des Fahrzeugs nahmen die indianischen Ruderer ein, die ein Meter lange löffelförmige Pagaien führen. Sie sind ganz nackt, sitzen paarweise und rudern im Takt, den sie merkwürdig genau einhalten. Ihr Gesang ist trübsinnig, eintönig. Die kleinen Käfige mit unseren Vögeln und Affen, deren immer mehr wurden, je weiter wir kamen, waren teils am Dach, teils am Vorderteil aufgehängt. Es war unsere Reisemenagerie. Wenn wir unser Nachtlager aufschlugen, befanden sich die Menagerie und die Instrumente immer in der Mitte; ringsum kamen sofort unsere Hängematten, dann die der Indianer und zu äußerst die Feuer, die man für unentbehrlich hielt, um den Jaguar fernzuhalten. Im Sonnenaufgang stimmten unsere Affen in das Geschrei der Affen im Walde ein. Dieser Verkehr zwischen Tieren derselben Art, die einander zugetan sind, ohne sich zu sehen, von denen die einen die Freiheit genießen, nach der die andern sich sehnen, hat etwas Wehmütiges, Rührendes.
Auf der überfüllten, keinen Meter breiten Piroge blieb für getrocknete Pflanzen, die Koffer, einen Sextanten, den Inklinationskompass und die meteorologischen Instrumente kein Platz als der Raum unter dem Gitter aus Zweigen, auf dem wir den größten Teil des Tages ausgestreckt liegen mussten. Wollte man irgend etwas aus einem Koffer holen oder ein Instrument gebrauchen, musste man an das Ufer fahren und aussteigen. Zu diesen Unbequemlichkeiten kam noch die Plage der Moskitos, die unter einem so niedrigen Dache in Scharen hausen, und die Hitze, welche die Palmblätter ausstrahlen, deren obere Fläche beständig der Sonnenglut ausgesetzt ist. Jeden Augenblick versuchen wir unsere Lage erträglicher zu machen, aber immer vergeblich. Während der eine sich unter ein Tuch steckte, um sich vor den Insekten zu schützen, verlangte der andere, man solle grünes Holz unter dem Blätterdach anzünden, um die Mücken durch den Rauch zu vertreiben. Wegen des Brennens der Augen und der Steigerung der ohnehin erstickenden Hitze war das eine Mittel so wenig anwendbar als das andere. Aber mit einem munteren Geiste, bei gegenseitiger Herzlichkeit, bei offenem Sinn und Auge für die großartige Natur dieser weiten Stromtäler fällt es den Reisenden nicht schwer, Beschwerden zu ertragen, die zur Gewohnheit werden.
Wenn ich mich hier auf diese Kleinigkeiten eingelassen habe, geschah es nur, um die Schifffahrt auf dem Orinoko zu schildern und begreiflich zu machen, dass Bonpland und ich auf diesem Stück unserer Reise beim besten Willen lange nicht alle die Beobachtungen machen konnten, zu denen uns die an wissenschaftlicher Ausbeute so reiche Naturumgebung aufforderte.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Lamuv Verlags, Göttingen. Die (gekürzte) Passage stammt aus dem Buch „Die Reise nach Südamerika“, erschienen bei Lamuv, 2002. – Ausschnitte aus Humboldts Reisebericht sind heute um 10.45 Uhr in der Sendung „Leseprobe“ im rbb-kulturradio zu hören.
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