„Ich entscheide selbst, was ich mir spritzen lasse“: Die Sorge um die Impfskepsis in sozialen Brennpunkten
Die Regierung ist besorgt, dass bestimmte Migranten-Gruppen keine Coronaimpfung wollen. Ein Ortstermin in Berlin-Marzahn zeigt: Das Misstrauen ist groß.
Im Mix-Markt läuft russische Schlagermusik, es gibt Pralinen der Marke „Nasch Tuzik“, Konfekt „Vasilki“, Kondensmilch und Marmelade aus der alten Heimat.
Marzahn ist ein Zentrum der in Berlin lebenden Russlanddeutschen, hier haben es Angela Merkel und Jens Spahn spürbar schwer, mit ihren Appellen zum Impfen gegen das Coronavirus durchzudringen.
Es gibt bisher keine gesicherten Daten, aber im CDU-Bundesvorstand wurden Ende April Rückmeldungen zu einer gewissen Impfskepsis unter bestimmten Migrantengruppen, auch Russlanddeutschen, als Problem thematisiert.
Aber natürlich gibt es auch hier völlig unterschiedliche Einstellungen zum Impfen, Pauschalurteile verbieten sich. Gerade viele ältere Menschen sind überfordert mit den Impfhotlines - immerhin wird nun von Seiten der Politik erkannt, dass gerade in sozial schwächeren Stadtteilen generell besser informiert und gezielt um Vertrauen geworben werden muss.
In Marzahn leben viele Menschen auf beengtem Raum in Hochhäusern. Entsprechend wichtig wäre aus Sicht der Bundesregierung eine hohe Impfquote gerade in solchen Stadtteilen, um die Infektionszahlen insgesamt zu drücken und für alle Bürger die Risiken zu minimieren.
Daher wird nun überlegt, mit gezielten Kampagnen und Impfungen vor Ort in solchen Stadtteilen die Impfbereitschaft zu erhöhen. Zumal viele keine festen Hausärzte haben.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat mitgeteilt, zeitnah sollten 10.000 Impfdosen an Stadtteilzentren in sozialen Brennpunkten oder Quartieren in schwierigen Wohnsituationen geliefert werden.
Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) unterstützt mobile Impfteams in benachteiligten Stadtteilen. Man müsse dort um Vertrauen werben und „hingehen, ansprechen in der Sprache, über die Sender, die gehört und gesehen werden“, so Giffey. In Köln hat es ganz ähnliche Entwicklungen geben.
Der Eindruck vor Ort in Berlin-Marzahn ist folgender: Es gibt mitunter ein tiefes Misstrauen gegen den Staat und die Maßnahmen, die Impfstoffe, die Wirksamkeit und mögliche Geschäftemacherei.
Einer, der die kostenlose Impfung für sich ausschließt, ist zum Beispiel Andrej Stein, 36, der mit seinem zwölfjährigen Sohn am Obststand vor dem Markt Trauben in den Einkaufswagen hebt.
"Man kann uns nicht zwingen"
„Ich entscheide selbst, wann ich etwas esse und was ich mir spritzen lasse“, sagt er. „Man kann uns nicht zwingen.“ Gegenfrage, aber warum, es ist doch freiwillig und kann schneller alte Freiheiten wiederbringen. Seine Antwort: „Noch ist es freiwillig. Aber jetzt planen sie den Zwang: wer wieder in das Restaurant oder reisen will, muss sich impfen lassen.“ Das ist so nicht ganz richtig, auch Tests sollen ausreichend sein.
Andrej Stein hat bei zu vielen Widersprüchen den Glauben in die Coronapolitik verloren. Und ob die Impfung wirklich Vorteile bringe? „Bei der Grippeimpfung hatten viele auch die Grippe danach.“
Sein Sohn hatte bereits Corona, er zeigt auf ihn: „Und? Ihm geht gut, nichts gespürt.“ Stein zitiert die Bibel, sieht die Impfung als Teufelswerk. „Wer profitiert denn? Erst sollten wir billige Masken tragen, dann teure, jetzt sollen alle Schnelltests machen und sich impfen lassen.“ Er wittert einen Komplott der Pharmaindustrie. Und keiner kenne die echten, langfristigen Nebenwirkungen. .
Auf den Hinweis, dass er dann vielleicht in den nächsten Monaten nicht nebenan in das Bistro Marzahn kann, zuckt er mit den Schultern. „Ja, das ist dann so: wer keinen Fahrschein hat, darf nicht mitfahren.“
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Clubbesuch bei Impfung? Nein danke
Fast halb so alt, aber die gleiche Meinung hat Vitali, 20 Jahre. „Ich traue dem nicht.“ Und, wenn es damit wieder früher in Kneipen oder Clubs gehen kann? „Nein, egal, ich will das nicht“ Ein ähnliches Bild nebenan, hier Galina Heinz ihren Laden „Majak“, es gibt hier russische Haushaltswaren, Keramik, Kosmetik, Filme. Eine Kundin will sich auf keinen Fall impfen lassen, sie hat im russischen Fernsehen viele negative Berichte über die Folgen hierzulande gesehen. Das hat gewirkt. Und ihr reiche es, wenn sie auch ohne Impfung weiter viel raus in die Parks der Umgebung kann.
"Ich warte auf Sputnik"
Geschäftsinhaberin Galina Heinz lehnt auf ihrem Tresen, die Geschäfte laufen schlecht. „Nur Sputnik, ich warte auf Sputnik“, sagt sie mit Blick auf das russische Vakzin.
Dieses würde hier sicher mehr Anklang finden, und mehrere Bundesländer wie Sachsen und Bayern sehen hierin ein Vehikel, um Tempo und Impfbereitschaft zu erhöhen.
Aber Kanzlerin Merkel hat dies nach dem jüngsten Impfgipfel de facto beerdigt. Die Kanzlerin betonte mit Blick auf das Zulassungsverfahren bei der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA): „Die Unterlagen reichen noch nicht aus für eine Zulassung.“ Nur wenn die sehr bald komme, mache die Bestellung von Sputnik V noch Sinn, denn Deutschland und die EU haben sich inzwischen nach den Fehlern am Anfang reichlich nachbestellt bei den Impfstoffen von Biontech, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson. Doch eine schnelle EMA-Zulassung ist bisher nicht zu erwarten.
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Angst vor Neben- und Nachwirkungen
Eine Kennerin der Russlanddeutschen-Gemeinde hier im Osten Berlins ist Katharina Kremer. Sie berichtet von Verschwörungsmythen, die sich erzählt werden. Etwa, dass einige Impfstoffe so programmiert seien, dass sie erst in einigen Jahren dramatische Nachwirkungen haben und viele Geimpfte gezielt töten werden. Sozusagen ein Mittel, um die Überbevölkerung und Zerstörung durch die Menschen einzudämmen.
Kremer selbst sagt: „Ich lasse mich noch nicht impfen, ich warte ab, welche Nebenwirkungen noch auftauchen.“ Dann gäbe es aber auch zunehmend einen Sinneswandel bei einigen Bekannten. "Eine Freundin will sich jetzt doch impfen lassen, weil sie Angst hat, dass sie sonst im Sommer nicht zu ihrer Familie nach Russland reisen kann." Und Kremer ist wenn, auch eher für Sputnik V. "Von den Bekannten, die es in Russland genommen haben, hatte keiner Nebenwirkungen."
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Der 89-jährige Geimpfte sagt: "Fühl mich wie 20"
Wer etwas pragmatischer an die Sache ran geht, ist Mehmet Günes, 41. „Klar, lass ich mich impfen“, sagt er rauchend vor dem Mix-Markt. Welchen Impfstoff am liebsten? „Diesen Deutschen, den der Türke erfunden hat, wie heißt der noch?“ Biontech. Wie den meisten hier, das unterscheidet ihn vielleicht von Leuten in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, geht es ihm weniger um ein Ende der Angst vor der Infektion oder einen Bar- oder Restaurantbesuch. Sondern primär um das freie Reisen, zum Beispiel in die Türkei.
Ganz am Ende taucht dann auch noch an diesem Mittag in Marzahn ein Geimpfter auf. Heinz Müller, 89, schiebt den Wagen in den Mix-Markt. Schon geimpft? „Jawoll, zwei Mal mit Biontech“, ruft Müller. „Ick fühl mich wie ein 20-Jähriger. Wünsche einen schönen Tach.“