Flugroute am BER: „Die Sicherheit wird ohne Not reduziert“
Um Anwohner am Flughafen BER weniger Krach auszusetzen, hat ein Hobbypilot die sogenannte Hoffmannkurve entwickelt. Die Deutsche Flugsicherung beurteilt sie als regelkonform - doch Cockpit-Sprecher Jörg Handwerg erklärt im Tagesspiegel, warum er die Kurve für unnötig riskant hält.
Herr Handwerg, am Flughafen BER sollen Piloten künftig bei Ostwind Sekunden nach dem Start, noch über der Südbahn, eine langgezogene Kurve nach rechts einlenken. Das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) und die Deutsche Flugsicherung haben die sogenannte Hoffmannkurve geprüft – und sie entspricht den Vorgaben der International Civil Aviation Organization (ICAO). Warum haben Sie trotzdem Sicherheitsbedenken?
Es ist schlecht, wenn wir in sehr niedriger Höhe Kurven fliegen müssen, denn es erhöht das Sicherheitsrisiko. Man braucht erheblich mehr Aufmerksamkeit als bei konventionellen Starts, die erst einmal ein Stück geradeaus verlaufen. Es ist nach dem Start nicht viel Platz nach unten – und es gibt zwei Dinge, die Ihnen beim Fliegen das Leben retten können: Höhe und Geschwindigkeit. Üblicherweise fliegt man Kurven in niedriger Höhe nur dann, wenn es notwendig ist, etwa bei Hindernissen hinter der Startbahn wie Bergen. Genau dafür wurden die Vorgaben der ICAO geschaffen. Die Behörden denken hier oft falsch: Was die ICAO vorgibt, ist nicht das Optimum, sondern nur Minimum.
Sie fliegen doch sonst auch Kurven.
Die Start- und die Landephase sind die kritischsten Phasen. Wenn die Komplexität beim Start aber steigt statt abzunehmen, wird das Sicherheitspolster dünner. Man will sich darauf konzentrieren, Höhe zu gewinnen, und nicht auf ein Manöver. Kurven sind einfach fehleranfälliger, deswegen fliegt man sie aus gutem Grund meist erst ab 1000 Fuß Höhe. Wenn wir dicht über dem Boden langgezogene Kurven beziehungsweise Richtungswechsel im Zickzack fliegen müssen, bedeutet das eine potenzielle Risikoerhöhung. Generell gilt zudem: Je stärker die Neigung, desto geringer ist die Steigleistung.
Das Bundesamt hat die Kurve im Flugsimulator der Lufthansa mit Chefpiloten bei widrigen Bedingungen getestet. Beim BAF heißt es, sie sei anspruchsvoll, aber technisch machbar. Und Befürworter sagen, sie werde doch per Autopilot geflogen.
Automatisch starten können Flugzeuge auch heute noch nicht. Aus Trainingsgründen fliegen die Piloten den Abflug oft bis 3000 Meter per Hand. Der Autopilot wird hier wenig genutzt und ist auch bei Systemausfällen nicht unbedingt in der Lage, das Flugzeug zu steuern. Es gibt auch technische Beschränkungen, die die Nutzung des Autopiloten in niedriger Höhe verbieten. Bei einigen Boeing 737 etwa darf man den Autopiloten unter 1000 Fuß, also rund 300 Meter, gar nicht zuschalten. Im Normalfall stellt die Kurve kein Problem dar, aber wir brauchen das Sicherheitspolster für die Fälle, in denen wir Probleme haben wie beispielsweise einen Triebwerksausfall. Die Kurve sollte nicht an der zulässigen Minimumhöhe eingeleitet werden. Die ist nur deshalb so niedrig, um Starts an Flughäfen zu ermöglichen, bei denen es geografisch nicht anders geht.
Was soll denn an der Kurve nun genau gefährlich sein?
Das Flugverfahren in geringer Höhe ist nicht sinnvoll, weil es mentale Kapazitäten bindet und die Komplexität deutlich erhöht, wenn mal ein unerwünschtes Ereignis eintritt, wie Vogelschlag, Triebwerks- oder Hydraulikprobleme oder andere schwere Fehler. Wir haben allein in Deutschland im Jahr 1000 Vogelschläge. Es kommt durchaus vor, dass ein – oder in sehr seltenen Fällen – mehrere Triebwerke ausfallen, wie 2007, als dem Kollegen die Notlandung auf dem Hudson River geglückt ist. Auch in Deutschland gab es schon einen ähnlichen Fall. Dann brauchen wir ein größtmögliches Sicherheitspolster. Beim Fliegen geht es allein um die Sicherheit der Menschen an Bord, und die wird in diesem Falle ohne Not reduziert. Hat man einen Triebwerksausfall, wird das Fliegen deutlich anspruchsvoller, nicht nur aufgrund des Drehmomentes. Ich muss dann nicht nur das veränderte Verhalten des Flugzeuges, welches einen mehr beschäftigt als üblich, in den Griff bekommen, sondern zudem auch noch viel mehr Kapazität darauf verwenden, wie hoch ich bin und wo ich gerade hinsteure.
Was ist der Unterschied zum Geradeausflug?
Dann kann ich mich voll auf das Problem konzentrieren, etwa das Löschen eines brennenden Triebwerks. Wenn ich in der Kurve liege, muss ich mich gleichzeitig auf mehrere Dinge konzentrieren: Nase runter, Steigflug reduzieren bei weniger stabilem Flugzeug, eventuell Schräglage reduzieren, schauen, wie die Hindernissituation aktuell ist, den Kurs prüfen, eventuell korrigieren, Hindernisse im weiteren Flugverlauf prüfen und mit meiner Steigleistung abgleichen und dabei den anderen Verkehr nicht aus den Augen verlieren. Die neue Flugroute erhöht für den Piloten den Stress und für ihn und die Passagiere reduziert es das Sicherheitspolster. In einer komplexen Situation kann dann irgendwann das Leistungsvermögen auch des bestausgebildeten und erfahrensten Piloten erreicht und schlimmstenfalls überschritten werden.
Kein Verkehrsmittel ist statistisch so sicher, und die Behörden verweisen auf Wahrscheinlichkeiten im hohen Millionenbereich. Sind die Ängste nicht übertrieben?
Fliegen ist so sicher, eben nicht nur weil wir strenge Bestimmungen haben, sondern vor allem, weil man darüber hinaus versucht hat, Sicherheitspolster zu schaffen. Da ist es kontraproduktiv, diese jetzt mit genau der Argumentation abzubauen, dass das Fliegen ja statistisch gesehen so sicher sei. Die Anschnallpflicht wird ja auch nicht abgeschafft, nur weil Autofahren sicherer geworden ist. Ein anderer Vergleich: Stellen Sie sich vor, es platzt Ihnen ein Autoreifen – in der Kurve. Sie können im Auto ein ABS einbauen, Sie müssen es aber nicht. Aber im Falle eines Falles rettet es Leben, auch wenn dieser Fall sehr unwahrscheinlich ist. Es geht hier um sehr geringe Wahrscheinlichkeiten, aber betrachtet man die Masse der Flüge – und alle 15 Jahre verdoppelt sich der Flugverkehr – kann man errechnen, dass sie so selten nicht auftreten. Auch sagt eine statistische Größe nicht aus, wann ein Ereignis eintritt. Es kann ewig nichts passieren, es kann aber auch morgen etwas ausfallen. Zum Glück gelingt es den Kollegen meist, die Situation zu beherrschen.
Ein hoch sicherheitsbewusstes Land und seine Behörden setzen sich unnötig Sicherheitsrisiken aus? Kaum zu glauben.
Wir beobachten bei der Debatte um den BER genau das, was sich leider seit dem Ausbau in Frankfurt bundesweit als Trend bemerkbar macht. Es wird teilweise offen gefordert, Lärmschutz vor die Sicherheit zu stellen. Die Flugrouten- Entscheidung in Schönefeld ist eine politische, eine gesellschaftliche Debatte, und sie findet unter enormem öffentlichen Druck statt. Da werden unsere Argumente nicht gern gehört. Man will leider lieber rasch Ruhe haben. Anders als in Frankfurt waren wir bei der Diskussion am BER nicht eingebunden. Die bisherigen Routendiskussionen waren aus Sicherheitssicht unproblematisch. Durch Ihre Tagesspiegel-Recherche sind uns die aktuellen Routenpläne erst bekannt geworden. Eine unserer Arbeitsgruppen beschäftigt sich jetzt intensiv damit. Wir werden die Ostkurve jetzt kritisch diskutieren und auch bei der Debatte um die Westkurve darauf drängen, dass Lärmschutz zwar berücksichtigt wird, aber Sicherheit an erster Stelle steht.
Eine typische Fehlentwicklung in letzter Zeit ist das strikte Nachtflugverbot in Frankfurt. In Frankfurt am Main stehen Kollegen jetzt unter Druck, wenn sie kurz vorm Start eine kleinere Fehlermeldung haben, aber wissen, dass es eigentlich keine Zeit mehr zur Kontrolle gibt, weil das Nachtflugverbot wegen des politischen Drucks sekundengenau befolgt wird. Das ist im Sicherheitssinne kontraproduktiv. Ein sinnvoller Ansatz wäre, jedem Flugzeug, wenn es rechtzeitig zum Start ablegt, zu ermöglichen zu starten. Die Entscheidung ob ein Flugzeug noch starten darf, darf nicht erst an der Bahn getroffen werden. Tritt auf dem Weg zur Bahn ein technisches Problem auf, so könnte dies dann mit der gebotenen Ruhe abgearbeitet werden. Das ist aktuell teilweise anders. Die Diskussionen gehen sogar so weit, dass bisher gültige Grenzwerte zum maximalen Rückenwind beim Landen gelockert werden sollen, um den Lärm gleichmäßiger zu verteilen. Einer der häufigsten Unfallarten ist das Abkommen von der Bahn, bei dem auch der Rückenwind eine maßgebliche Rolle spielt. Deswegen lehnt die Vereinigung Cockpit eine Erhöhung der aktuellen Maximalwerte aus Lärmverteilungsgründen strikt ab.
Die Vereinigung Cockpit ist nicht nur Berufsverband, sie sind auch Gewerkschaft. Ist das nicht Lobbyarbeit, die Sie hier betreiben?
Der Begriff Lobbying ist ja oft mit einem negativen Image behaftet, weil sich manchmal starke Parteien, mit viel Geld, versuchen persönliche, oft finanzielle Vorteile, auf Kosten anderer zu verschaffen. Wir sind mal vor knapp 45 Jahren als Berufsverband gestartet, um die Sicherheit im Luftverkehr zu erhöhen. Das hat mit finanziellen Interessen oder Vorteilen für uns nichts zu tun, sondern ist im Interesse aller: der Passagiere, der Menschen am Boden und auch der Crews. Piloten haben persönlich keine finanziellen oder sonstigen Vorteile, wenn ich diese Bedenken hier äußere. Wir fühlen uns moralisch verpflichtet unser Wissen zum Wohle der Sicherheit der uns anvertrauten Menschen, einzubringen. Menschen die etwas anderes behaupten versuchen nur vom Inhalt der Diskussion abzulenken.
Jörg Handwerg, 45, ist Flugkapitän bei der Lufthansa und seit 2009 Sprecher der Pilotenvereinigung Cockpit, dem Verband der Verkehrspiloten mit rund 9200 Piloten in Deutschland.
Lesen Sie hier wie dem Hobbypilot Marcel Hoffmann die Idee zur Flugkurve kam.
Annette Kögel