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Finger hoch! In Berlin geht am Montag die Schule wieder los.
© Frank Molter/dpa

Schulstart in Berlin im Zeichen von Corona: Die Schule selbst ist hier der Risikopatient

Corona zeigt wie unter einem Brennglas die Defizite der Bildung in Berlin. Die Schulsenatorin hat daran Anteil - zeigt aber lieber auf andere. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Vieth-Entus

In Berlin beginnt die Schule, und Bildungssenatorin Sandra Scheeres kann aufatmen: Die Schüler haben den Aufruf zum „Schulstreik“ vertagt, die Eltern ließen die Vokabel sogar ganz fallen und begnügten sich mit Appellen für mehr Sicherheitsvorkehrungen in den ersten beiden Schulwochen. „Die Senatorin ist noch einmal davongekommen“, könnte man meinen. Aber für diese Annahme ist es zu früh.

Denn was sich da am Wochenende an Frust Bahn brach bei den Repräsentanten von 370.000 Schülern und ihren Eltern war viel mehr als nur die Befürchtung, dass die Hygienevorkehrungen nicht reichen könnten. Es war vielmehr ein Misstrauensvotum für eine Bildungsbehörde, die es seit Jahren nicht schafft, die grundlegenden Bedingungen für guten Unterricht zu erfüllen.

Nie wurde das deutlicher als jetzt, da die Corona-Pandemie alle Versäumnisse wie unter einem Brennglas zeigt. Die Pandemie bedroht ein System, das durch mehrere chronische Krankheiten selbst als Risikopatient zu gelten hat: Marode Schulen, fehlende Schulplätze, Lehrermangel und das Versagen bei der Digitalisierung der Schulen summieren sich zu einem Gesamtbild, das jeder Arzt als „schwere Vorerkrankung“ einstufen würde.

Anders ausgedrückt: Die Schulen dürften eigentlich gar nicht starten. Müssen sie aber, denn es gibt nicht nur eine Pflicht zum Schulbesuch, sondern auch ein Recht auf Bildung. Scheeres muss also liefern.

Dass die Senatorin dabei versagt und genau dies durch den Hinweis auf „andere Bundesländer“ zu vertuschen versucht , die ebenfalls Probleme hätten, gehört längst zur Folklore ihrer öffentlichen Auftritte. Ein Höhepunkt ereignete sich vergangene Woche nach der Senatssitzung im Berliner Rathaus, als Scheeres das gut aufgestellte Bayern als Beispiel für den bundesweiten Lehrermangel bemühte und süffisant darauf hinwies, dass das CSU-regierte Land noch 800 Lehrer suche.

Wusste sie denn nicht, dass diese 800 Lehrer lediglich als Reserve für Lehrer mit Vorerkrankungen gedacht sind?

[Lesen Sie auch: Schulstart in der Corona-Pandemie: Was Berliner Schüler, Eltern und Lehrer wissen müssen]

Im Unterschied zu Berlin hat Bayern diese Stellen bereits vor drei Wochen ausgeschrieben, obwohl das dortige Schuljahr erst Anfang September, also vier Wochen später als in Berlin, beginnt. Zum Vergleich: Scheeres verhandelte zuletzt noch immer mit dem Finanzsenator darüber, ob sie 100 Stellen für diesen „Ersatzpool“ bekommt – und das bei rund 2000 als Risikopatienten geltenden Lehrern.

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Sandra Scheeres (SPD), Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, beantwortete am Montag zum Schulstart Fragen im Gesundheitsausschuss.
Sandra Scheeres (SPD), Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, beantwortete am Montag zum Schulstart Fragen im Gesundheitsausschuss.
© Wolfgang Kumm/dpa

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Vielleicht wäre das Zutrauen der Berliner Schüler, Eltern und auch Lehrer in die Politik größer, wenn die Senatorin diese Stellen so früh wie Bayern eingetütet hätte. Wahrscheinlich ginge es allen besser, wenn sie den neuen Hygienebeirat im Mai und nicht erst drei Tage vor Ferienende berufen hätte.

Noch immer keine funktionierende IT-Ausstattung für alle Schulen

Sicher wäre die Angst vor der zweiten Infektionswelle geringer, wenn es in Berlin so etwas gäbe wie eine funktionierende IT-Grundausstattung. Stattdessen wird es noch Jahre dauern, bis alle Schulen einen Breitbandanschluss haben, von einer digitalen Unterrichtsentwicklung ganz zu schweigen.

Lesen, Schreiben, Rechnen: Die Schule geht wieder los.
Lesen, Schreiben, Rechnen: Die Schule geht wieder los.
© Mascha Brichta/dpa-tmn

Dabei hatte sich Rot-Rot-Grün nach der Wahl 2016 so viel vorgenommen in Sachen Bildung. Ihr gehörte in der Koalitionsvereinbarung – noch vor den Bereichen Arbeit und Wohnen – das erste Kapitel des 200-Seiten-Papiers, und das Kapitel lautete „Beste Bildungschancen für mehr Teilhabe“. Stand heute muss man sagen: Selten war Berlin weiter von diesem Ziel entfernt.

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Denn es sind vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien, die zu den Leidtragenden des gebrochenen Koalitionsversprechens werden: Sie vor allem sind es, die gut ausbildete Lehrer brauchen würden, anstatt von Berufsanfängern ohne Lehramtsstudium alphabetisiert zu werden. Sie sind es, die am meisten leiden, wenn es keine guten Konzepte für den Unterricht zu Hause gibt.

Die Bildungssenatorin möchte sicher gern bis zum Ende der Legislatur im Amt bleiben. Die Neigung innerhalb der Koalition, sie auf ihrem Posten zu lassen, dürfte schwinden. Und das wird auch der Regierende Bürgermeister wissen.

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