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Schule
© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Schul-Dschungel (5): Die Schule als Bühne

Grundschulen mit zahlreichen verschiedenen Schwerpunkten gibt es in Berlin. An der Erika-Mann-Grundschule in Wedding zum Beispiel sind die Schüler gleichzeitig auch Schauspieler. Die Theaterarbeit stärkt das Selbstbewusstsein, die Sprache und das Körpergefühl.

Nur schwer nimmt man Karin Babbe ab, dass sie selbst nie geschauspielert hat. Spricht die Schulleiterin der Erika- Mann-Grundschule in Wedding über die Theaterarbeit mit ihren Schülern, unterstreichen Augen, Mundwinkel und Hände unaufhörlich und beinahe bühnenreif ihre Worte. Wenn ihr etwas besonders wichtig ist, ballt sie die Fäuste. So betont sie zum Beispiel, dass wirklich jedes der 589 Kinder hier Theater spiele: „Von der Prinzessin bis zum einzelnen Baum – jeder ist fürs Stück wichtig.“ Und wer wichtig ist im Stück, der ist es auch sonst im Alltag dieser Schule, an der Mädchen und Jungen aus einem schwierigen Kiez und 23 Nationen unterrichtet werden.

Die Schule zählt zu Berlins besten. In diesem Jahr wurde sie für den Deutschen Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung nominiert, der im Herbst vergeben wird. Zu den großen Verdiensten der Schule gehört ihre Sprachförderung: Noch bei der Einschulung hat ein Großteil der Kinder erhebliche Sprachdefizite. Dass 82 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben, lässt Babbe als Erklärung dafür nicht gelten. Schließlich seien Kinder aus türkischen Akademikerfamilien meist wesentlich weiter als deutsche Kinder aus bildungsfernem Milieu. „Wir haben vor allem ein Schichtproblem“, sagt Babbe. Damit weiß ihr Kollegium aber nachweislich hervorragend umzugehen. Im zweiten Schuljahr erreichen die Schüler das durchschnittliche Bildungsniveau des Bezirks Mitte. Nach vier Jahren stünden sie besser da als der Landesschnitt, so Babbe.

Das Schlüsselmoment für diese Erfolge liegt elf Jahre zurück. Damals firmierte die Schule noch als 20. Grundschule. Babbe begann als Schulleiterin und fetzte sich manchmal gründlich mit ihren neuen Kollegen. Auch ihr Vorschlag für einen Schulnamen fiel durch. Doch dann rauften sie sich allmählich zusammen und suchten erst einmal nach einer zur Schule passenden Idee. „Schließlich nahmen wir uns die Jesuitenschulen zum Vorbild“, sagt Babbe. Denn der Jesuitenorden nutzt schon lange Schauspiel als Unterrichtsmethode. Das wollte man im Wedding auch versuchen und fand prompt die geeignete Patronin: Thomas Manns Tochter Erika, die sowohl auf der Bühne stand als auch Kinderbücher verfasste.

Seitdem steht in jeder Klasse zwei Stunden pro Woche Theater auf dem Stundenplan. Eine Stunde davon kommt durch das anerkannte Theaterprofil aufs übliche Pensum obendrauf, die andere Stunde zwackt die Schule vom Deutschunterricht ab. Ihre Stücke erarbeiten sich die Klassen selbst, das Schülerparlament gibt ein Jahresthema vor. Im vergangenen Schuljahr lautete es „Energie“, dieses Mal „Helden“. Einmal jährlich führen die Erika-Mann-Schüler ihre Werke in der Schaubude auf, einem Kindertheater in Prenzlauer Berg.

Die 5 e probt derzeit weiter ihr Stück aus dem vergangenen Jahr, weil es noch eine Spezialaufführung für die Eltern geben soll. „Achtet auf eure Gesichter – ihr seid Roboter“, ruft Theaterlehrerin Monika Dey dazwischen. Die Schüler haben sich mit Alufolie beklebte Pappschachteln über Köpfe und Körper gestülpt. Zu elektronischer Musik stapfen die Kinder im Stechschritt und lesen in monotonem Duktus Botschaften vor wie „Auf der Erde gibt es zu viel Müll“. Als Mert, den ein an die Schultern geknoteter Draht als Anführer ausweist, ein Kostüm verliert, überspielt er das gekonnt. „Ich habe die Hauptrolle“, sagt er stolz. Lampenfieber vor Auftritten kenne er nicht. „Ich habe ja schon den Prinzen in Dornröschen gespielt“, meint er nur. „Und ich war die Prinzessin“, ruft ein Mädchen mit Sommersprossen dazwischen.

Das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken, ist das wichtigste Ergebnis des Bühnenspiels. „Die Schüler lernen durch das Theater, aufrecht durchs Leben zu gehen“, sagt Babbe. Nebenbei schulen sie ihr Sprachverständnis – schon allein durch die einstudierten Sätze. Die meisten Schüler starten laut Babbe mit „doppelter Halbsprachigkeit“ in ihr Schulleben, sprechen also weder Deutsch noch ihre Muttersprache korrekt. Ein Inszenierungsmittel wie der in der antiken Theaterwelt gängige Chor wird da plötzlich zum Lehrmeister in Grammatik. Ein Beispiel: Ein junger Schauspieler ruft „Ich bin hungrig“, der Chor antwortet mit „Er ist hungrig“. Die Schüler erhalten so einen intuitiven Zugang zur Konjugation, worauf sie im Deutschunterricht aufbauen können.

Ein Gewinn sind die Theaterstunden indes nicht nur für die Sprachfertigkeit. „Die Kinder bekommen ein Gefühl für Bewegungen im Raum“, sagt Theaterpädagogin und Lehrerin Uta Klotz, die die Arbeit von sieben für den Bühnenunterricht fortgebildeten Kolleginnen koordiniert. Das räumliche Denken wiederum komme dem Mathematikunterricht zugute.

Ein weiterer Pluspunkt ist, dass sich die Kinder überhaupt so viel bewegen. In einer Theaterübungsstunde mit Frau Klotz laufen die Fünftklässler durchs Zimmer und halten auf Kommando inne: Bei „Sturm“ geht es in die Hocke, bei „Wasser“ balancieren die Kinder auf einem Bein, bei „Feuer“ strecken sie ihre Arme aus. Dabei lernen die Schüler, sich zu konzentrieren. Dazu läuft Musik, wie auch zum tänzerischen Treiben der Schulanfänger. Zu Meeresrauschen und Flötenklängen probieren sie aus, was sich mit einem Jongliertuch so alles anstellen lässt. Der eine knüllt es in einer Hand zusammen, die andere lässt es durch die Luft flattern. Hinterher sollen die Kinder mit Worten beschreiben, was sie eben gemacht haben. Das fällt vielen nach erst wenigen Wochen an dieser Schule schwer.

Doch die Schüler haben gute Chancen, ihren Rückstand aufzuholen. Mehr als ein Drittel der Mädchen und Jungen an der Erika-Mann-Grundschule erhält eine Empfehlung fürs Gymnasium. Und das, ohne große Sorgen wegen der Probezeit haben zu müssen: „Wenn wir Gymnasium sagen, schaffen die das auch“, so Schulleiterin Babbe. Das ist vor allem deshalb so, weil sich die Schule in einem Jahrzehnt so verwandelt hat wie Schauspieler in der Maske.

In den Fluren des Altbaus aus Kaisers Zeiten stehen jetzt ausgefallene Sitzmöbel zum Ausklappen oder in Wellenform, es gibt Räume mit Wippstühlen zum Entspannen und Höhlen zum Sichverkriechen. Auf Wunsch der Schüler wurde alles mit Hilfe von TU-Architekturstudenten, den „Baupiloten“, in eine Drachenwelt verwandelt. Vieles hier ist liebevoll gestaltet. Zwischen Stützbalken im Treppenhaus sind Saiten gespannt und aufeinander gestimmt – wer vorbeigeht, kann eine Melodie zupfen.

Zensuren gibt es bis Ende der vierten Klassen keine, stattdessen jahrgangsgemischte Klassen, Ganztagsangebote und zweimal jährlich Gespräche zwischen Eltern, Lehrern und Kindern. „Wir erreichen 95 Prozent der Eltern“, sagt Babbe. Die Kulisse stimmt ebenso wie das, was die Schüler, Eltern und Lehrer auf dieser Bildungsbühne im Wedding leisten – nicht zuletzt dank des Theaterprofils.

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