1200 Berliner sind hundert oder älter: Die Ruhe nach dem Sturm
Hat man mit hundert noch Träume? Elfriede Brüning und Ernst G. sind zwei kleine evolutionäre Wunder. Seit dem Mauerfall hat sich die Zahl der über Hundertjährigen in Berlin versechsfacht. Die Uralten blicken auf ein Jahrhundert zurück, das zu überleben eine eigene Kunst war.
Sie ist fast schon an der Reihe, als der Mann umfällt. Das Gesicht: schmerzverzerrt. Vor dem Mund: Schaum. Seine Glieder zucken. „Armer Kerl“, hört sie jemanden sagen. Sie dreht sich um und läuft weg, nichts wie raus aus dem Fleischerladen, nur nach Hause, wo die Mutter schimpft, weil sie ohne das Knochenfleisch nach Hause kommt – auch das weiß sie noch. Sie war acht, und es war das vierte Jahr des Krieges. Des Ersten Weltkriegs.
Am Freitag kommender Woche feiert Elfriede Brüning ihren 103. Geburtstag. Sie hat das Kaiserreich überlebt und die Weimarer Republik, Nazideutschland und die DDR. Sie ist Enkelin, Tochter, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter gewesen in diesem Leben, Geliebte, Gattin und Geschiedene, Arbeiterkind und Bestsellerautorin. Seit sechs Jahren wohnt sie in einem seniorengerechten Neubau in Friedrichshain, 45 Quadratmeter, Polstermöbel, viele Bücher, darunter viele eigene, ein kleiner Nussbaumsekretär am Fenster. In ihrer Schublade: der Vaterländische Verdienstorden in Bronze, Silber und Gold.
28 Bücher hat Elfriede Brüning verfasst, insgesamt 1,5 Millionen Exemplare verkauft. In der DDR war sie eine viel gelesene Autorin. Bekannt wurde sie mit Unterhaltungsromanen wie „Und außerdem ist Sommer“ und „Junges Herz muss wandern“, in späteren Büchern ging es um alleinerziehende Mütter, straftätige Jugendliche und die Perspektiven älterer Frauen. Durchaus mit einem kritischen Blick auf die Gesellschaft – aber nie so systemkritisch, dass man ihr das Wort verbot.
„Nach der Wende war ich nicht mehr gefragt. Keines von den Büchern, die ich nach der Wiedervereinigung geschrieben habe, ist in einem westdeutschen Medium besprochen worden“, sagt sie. Ihr scheint, dass jeder, der in der DDR erfolgreich war, heute verurteilt wird. „Ich fühle mich wie ein Waisenkind in diesem Land. Aber es ist schön, dass man überall Obst bekommt.“
Er ist 1969 in Rente gegangen
Ernst G., 101, holt sich Orangen und Birnen noch jeden Freitag auf dem Markt. Sein ganzes Leben sei er nicht berühmt gewesen, sagt er, und das soll auch so bleiben. Deshalb möchte er, neugierige Augen, lichtes weißes Haar, kariertes Hemd, seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Ehrlich gesagt sei ihm ja der Brief des Bundespräsidenten schon zu viel gewesen. Zum 100. Geburtstag bekommt jeder einen. Ab dem 105. sogar jährlich. „Das ist doch keine Leistung, alt zu werden“, sagt Ernst G.
Etwas dafür getan hat er aber schon. Täglich einen Löffel Honig, darauf schwört er. Den holt er sich auf dem Markt in Reinickendorf, genau wie „anständiges Brot“. Ernst G. ist Bäcker gewesen von Beruf. 1969 ist er in Rente gegangen.
Wie Elfriede Brüning und Ernst G. sind in Berlin mehr als 1200 Menschen über hundert Jahre alt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich ihre Zahl verdoppelt. Seit 1990 sogar versechsfacht – dem medizinischen Fortschritt und den guten Lebensbedingungen sei Dank. Vor allem Frauen erreichen immer häufiger dieses hohe Alter, sechsmal öfter als Männer. Nicht allen geht es gut dabei, aber einigen schon. Die Mehrheit von ihnen lebt in Privathaushalten.
Sie sind kleine evolutionäre Wunder, jeder für sich. Und sie sind Zeitzeugen von unschätzbarem Wert. Auf ein ganzes Berliner Jahrhundert blicken sie zurück – und auf was für eines. Belanglos ist da die Gegenwart in den Augen derer, die das hinter sich haben.
„Viel künstliche Aufregung da draußen“, sagt Ernst G. Die Jugendlichen, die ihm auf dem Weg zum Supermarkt begegnen, über die staunt er. Mit ihren bunten Haaren, absichtlich zerrissenen Kleidern, immer Musik auf den Ohren. Demonstrativ abgetaucht in eine andere Welt. Oder diese Mütter, von denen manche ihre Kinder von ihm wegziehen, wenn er ihnen einen Bonbon zustecken will – Salbei, immer dabei. Irgendwie gehört man nicht mehr dazu. Auch das ist Teil des Schicksals der Generation hundert plus.
Elfriede Brüning wird 1910 in Prenzlauer Berg geboren. Die Stargarder Straße ist ihr Zuhause. Ihr Vater, Tischler, wird im Ersten Weltkrieg von einem Rüstungsbetrieb reklamiert, die Mutter, Mützennäherin, schult man auf Uniformen um. Die kleine Elfriede hat einen jüngeren Bruder, Wolfgang, an dem später einmal Leni Riefenstahl Gefallen finden wird – an einem Filmset entdeckt sie den blonden jungen Mann unter den Statisten und stellt ihn ein. Als ihr Assistent wird er NS-Propagandafilme wie „Triumph des Willens“ drehen. Zunächst aber hat die achtjährige Elfriede gut damit zu tun, den Dreijährigen zu versorgen. Die Eltern haben wenig Zeit, das Essen ist knapp, es sind die Kohlrübenwinter. Wie viele unterernährte Kinder leidet der Junge unter Mineralienmangel. Elfriede fährt das kränkliche Kind spazieren, übt mit ihm die ersten Schritte.
Bei der Bücherverbrennung steht sie dabei
Acht Jahre später betreiben ihre Eltern im Berliner Wedding eine kleine Leihbücherei. Im Hinterzimmer trifft sich der Kern der KPD: Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, einmal kommt auch Ernst Thälmann. Auf der anderen Seite der Wand verarbeitet die 16-jährige Elfriede ihre erfolglose Teilnahme an der Wahl zur „Berliner Sommerkönigin 1927“. Ihr unverlangt eingesandter Bericht über den Wettbewerb wird im „12-Uhr-Blatt“ gedruckt. So gelingt der Arbeitertochter der Einstieg in den Journalismus.
Was die meisten Heutigen nur aus Geschichtsbüchern kennen, hat sie erlebt: 1933 sieht sie vom Rande des Opernplatzes aus zu, wie die Werke ihrer Vorbilder in Flammen aufgehen. Den Scheiterhaufen, aufstiebende Funken. Vom Feuer gerötete Gesichter, erregte Studenten in Uniform. Joseph Goebbels persönlich ist unter denen, die da Bücher verbrennen. Da ist sie schon Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“. Wenig später wird sie deshalb für ein halbes Jahr ins Gefängnis gehen. Ihren künftigen Bräutigam, Vater ihrer Tochter, einen Verleger, kennt sie schon. Auf dem Gut seiner Eltern wird sie den Zweiten Weltkrieg überstehen. Doch von alldem weiß sie zu diesem Zeitpunkt nichts. Allein vom Krieg ahnt sie an diesem Abend, dass es ihn geben wird. Die Ascheflocken wehen zu ihr herüber in das noch sehr blonde Haar.
Ab dem heutigen Freitag zeigt das Rathaus Schöneberg eine Ausstellung mit Porträts von Hundertjährigen. Die meisten leben in Steglitz-Zehlendorf. 230. Zufall? Menschen rätseln seit langem, ob bestimmte geografische Merkmale ein hohes Alter begünstigen. Eine auffällige Häufung von Hundertjährigen gibt es auf Sardinien, berühmt ist die japanische Insel Okinawa. Mehr als 900 der 1,3 Millionen Einwohner dort sind hundert oder älter. Angeblich liegt das vor allem an ihrer Ernährung, ballaststoffreich, fettarm, wenig Fleisch – und nur kleine Portionen.
Ganz anders, als die Menschen es heute halten, sagt Bäcker Ernst G. „Was die auf der Straße in sich reinstopfen. Und überall bleibt der Müll.“ Elfriede Brüning beobachtet aus dem Beifahrerfenster heraus oft verwundert, wie leger die Menschen auf den Wiesen herumliegen. Früher haben Picknicks gesitteter ausgesehen. In den 30er Jahren war Elfriede Brüning eine der ersten Frauen in Berlin, die ein Auto fuhren. In ihrem hundertsten Lebensjahr gibt sie ihren Führerschein zurück. Aus gekränktem Stolz – ihre Nachbarn hatten sie angezeigt. Es bestünden Zweifel an ihrer Fahrtauglichkeit.
Alter ist einsam
Elfriede Brüning hat zwei Urenkel, von denen einer in Berlin lebt. „Er stellt mir nie Fragen“, sagt sie. „Er interessiert sich nicht.“ Oft liest Elfriede Brüning bis nach Mitternacht. Drei Zigaretten genehmigt sie sich am Tag. „Aber manchmal vergesse ich es auch.“
Der Mauerfall am 9. November 1989? „Ich war entsetzt“, sagt Elfriede Brüning. „Ich wollte ja auch, dass sich etwas ändert, aber nicht so. Ich habe ja an den Sozialismus geglaubt.“
Ernst G. erlebt den Tag in der anderen Hälfte der Stadt. „Ich habe meine Tochter angerufen und gesagt: Du holst mich jetzt ab, wir müssen da hin!“, erinnert er sich. „Vater, dafür bist du zu alt, die sind ja außer Rand und Band“, antwortet sie. Sie sind dann doch gefahren. „Ich war doch noch keine 78.“
Ernst G.s intensivste Kindheitserinnerung ist die, wie sein Vater aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause kommt. Mit kaputtem Arm, aber am Leben. Eine weitere starke Erinnerung ist, „wie ich selber in den Krieg musste. Meine Frau hat kein Wort rausgebracht, und meine Tochter Ursula hat geweint, genau gespürt, was los war, dabei war sie doch erst ein Jahr.“ Das Wissen darum, dass sein Vater den Krieg überstanden hatte, habe ihm Mut gemacht. Und tatsächlich: Ernst G., der von sich sagt, immer ein unpolitischer Mann gewesen zu sein, überlebt. Seine Frau aber kommt im Bombenhagel um. Auf dem Nachttisch hat er ein sehr kleines, bräunliches, an den Rändern abgestoßenes Foto von ihr stehen. „Das war mit im Feld.“ Nie habe er aufgehört, sie zu lieben, sagt er. Natürlich habe es „Bekanntschaften gegeben, mit anderen Damen“. Geheiratet aber hat Ernst G. nicht mehr. Die Tochter, Ursula, zieht er allein groß. Vor elf Jahren hat er auch sie beerdigt.
Wann wird man vom älteren Herren zum uralten?
Es gehört dazu, wenn man so alt wird, dass man die Freunde überlebt. Mitunter die eigenen Kinder. Ernst G. hat keinen, dem er von früher erzählen kann. Von 1927, als Fritz Langs Metropolis in Berlin uraufgeführt wird. Der 14-jährige Ernst G. ist ein glühender Fan des Boxers Max Schmeling, der in diesem Jahr den Europameistertitel holt. Die grobkörnigen Zeitungsbilder klebt er sich an den Spiegel.
Seit seine Tochter tot ist, kümmert sich bei Ernst G. eine Polin um den Haushalt. Sie erledigt auch die schweren Einkäufe. Er selbst gehe schon für einen einzigen Joghurt los, wenn er Lust darauf habe, sagt er. „Ich habe ja auch sonst nichts zu tun.“ Ernst G. sieht fern, am liebsten Schwarzweißfilme, gerne auch „Wer wird Millionär“. Der Jauch ist ihm sympathisch. Mit seiner Rente kommt er einigermaßen über die Runden. Das meiste Geld geht für die Haushaltshilfe drauf. Wenn eine Lampe zu reparieren ist, bittet er den Hausmeister. „Der hält mich für 82“, sagt er strahlend. Wann wird man vom älteren Herren zum alten? Ab wann ist man uralt? Das Alter ist relativ. „Relativ langweilig“, sagt Ernst G. Relativ einsam auch.
"Nicht alles wird schlechter"
Einmal pro Woche kommt die Putzfrau zu Elfriede Brüning. Alle paar Wochen eine Friseurin, die auch die Nägel lackiert. Perlmuttrosa, unverändert seit Jahrzehnten. Vor einer Weile hat sie sich einen Pflegedienst bestellt. Aber da kam ständig jemand anderes. Also hat sie wieder gekündigt. Es ist auch nicht so, dass sie einen gebraucht hätte. „Es wäre bloß schön gewesen, wenn mal einer gucken kommt“, sagt sie. „Ob ich noch da bin.“
„Nicht alles wird schlechter mit den Jahren“, sagt Elfriede Brüning. Die Migräne war mit 70 plötzlich weg. Und noch immer blüht sie auf, wenn sie als Schriftstellerin gefragt ist. Das Marx-Engels-Zentrum in Charlottenburg hat sie eingeladen, aus ihren Büchern zu lesen. 45 Minuten sind eingeplant. Elfriede Brüning liest anderthalb Stunden ohne Pause mit brüchiger, aber kräftiger Stimme. „Und jetzt gucken wir noch den Film“, sagt sie anschließend.
Anlässlich ihres hundertsten Geburtstags hat ein Zwei-Mann-Team mit Stiftungsgeldern einen Film über sie gedreht. Über Elfriede Brüning, die DDR-Autorin. Noch etwas voller ist ihr Gesicht auf den Aufnahmen, die nun knapp vier Jahre alt sind. Die Schritte, die sie mit ihrem Gehwagen macht, sind schon die gleichen wie jetzt. Bedächtig, von oben herab, als gelte es Schritt für Schritt ein Hindernis zu übersteigen. Wie viele Schritte ist sie schon gegangen? Wie viele wird sie noch gehen?
Forscher glauben, dass mehr als die Hälfte der Babys, die 2013 geboren worden sind, ihren 100. Geburtstag feiern werden. Bereits heute leben Menschen in der westlichen Welt im Durchschnitt ein Jahrzehnt länger als ihre Eltern. Elfriede Brüning hat für den nahenden Geburtstag einen Raum in ihrem Wohnkomplex reserviert. „30 Leute werden schon zusammenkommen“, sagt sie.
Hat man mit hundert noch Träume? „Ich bin jeden Tag aufs Neue überrascht, aufzuwachen“, sagt Ernst G. Ihm sei ohnehin, als ob er träumte – unwirklich, das alles. „Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich habe nichts mehr vor.“
„Keine Träume, nein“, sagt Elfriede Brüning. Auch keine Projekte. Sie habe sich ausgeschrieben. „Irgendwann ist gut.“
Das Bedürfnis, sich einzumischen, das sie ihr Leben lang getrieben hat, verspürt sie nicht mehr. Wenn das Gespräch auf aktuelle Themen kommt, erlischt der Glanz in ihren Augen rasch, der kindliche Ausdruck verschwindet aus ihrem Gesicht. Was da draußen geschehe, gibt sie zu, sei ihr inzwischen doch ziemlich egal.
„Es ist ja so“, sagt sie und lehnt sich nach einem langen Tag erschöpft zurück. „Ich lebe nicht mehr in dieser Zeit.“
Erschienen auf der Reportage-Seite. Eindrucksvolle Bilder von Hundertjährigen des Fotografen Karsten Thormaehlen, auch eines von Elfriede Brüning, finden Sie hier.